Der Herr der Dinge

Viel Geschichte und wenig Geschichten

Am Anfang sind die Augen, groß wie die Leinwand, groß wie New York. Ein Messer kratzt schabend über die Haut. Es ist das Messer, unter dem der Mann sterben wird und später auch der, der ihn getötet hat. Dem Jungen, der dieses Messer einmal führen soll, sagt der Vater jetzt „Das Blut bleibt immer an der Klinge.“ Dieser Satz wird nie einen Sinn für die Geschichte gewinnen, aber beschreibt den Erzählimpuls des Filmes: Das Blut, das einmal auf ihren Straßen vergossen wurde, das bleibt immer in der Stadt. Als Historie und als ein Gefühl, das anarchische Kraft erzeugt.

Davon erzählt Martin Scorsese. Von den Gangs, die New York in der späten Mitte des 19. Jahrhunderts beherrschten; von den Unruhen, die ausbrachen, als 1863 junge Männer ausgehoben wurden für den Bürgerkrieg; von den „Five Points“, jenem Elendsquartier, das da lag, wo man heute chinesisch essen geht. Das ist auch eine Geschichte des Rassismus der protestantischen Amerikaner, gegenüber den katholischen Einwanderern aus Irland. Nachdem der Mann das Messer sorgfältig verpackt hat, greift er ein Kruzifix und geht voran. In der Dunkelheit dieser Katakomben schimmern die Kerzen, die Feuer lodern und die Waffen klirren. Es sieht aus, als gelte es eine Schlacht in der Finsternis von Mittelerde. Es ist aber New York und Martin Scorsese ist nur der Herr der Dinge.

Als Leonardo DiCaprio sich auf der Titanic zum König der Welt ausrief, da hatte James Cameron ein berühmtes Schiff und eine berührende Geschichte. Martin Scorsese hat nur eine berühmte Stadt. Vielleicht, dass er hoffte, DiCaprio würde New York so stemmen wie einst die Titanic, aber dazu benötigte er eine Geschichte, die so schön ist wie jene Liebe, die vom Himmel auf den Grund des Meeres sank. Titanic hat elf Oscars gewonnen, Gangs of New York ist für zehn nominiert. Zu denen, die er gewinnen wird, sollte der für die Ausstattung gehören. Das Erscheinungsbild dieses New York, das bei Rom nachgebaut wurde, ist überwältigend und so bemerkenswerter, als die Zukunft der Ausstattung im virtuellen Digital-Design gesehen wird. Das hat etwas von Charles Dickens und den alten Piratenfilmen, das riecht und schmeckt. Die Five Points im fahlen Licht, dessen Farbe von Staub und Blut und Armut bestimmt wird, sind ein New York, das man so noch nicht gesehen hat. New York, das waren immer irgendwie die Indianer auf dem Broadway, dann kamen gleich Al Capone und die Prohobition und Maschinenpistolen. In diesem New York wird Krieg geführt mit Waffen, die sind kaum weiter als jene aus Mittelerde. Die Kriege dieses Filmes sind auch preiswürdig, der Schnitt, die Kamera, die der Deutsche Michael Ballhaus führte, das Licht. Die große Eingangsschlacht zwischen den Gangs ist eine grandiose Choreografie, kaum, dass eine Waffe einen Körper berührt und doch wird die archaische Brutalität dieses Schlachtens greifbar. Sie sind als Bewegung ritualisiert und sie sind es als Design, die Iren sehen ein wenig aus wie die schottischen Brave Hearts. Das alles ist von grandioser Opulenz, von überwältigender Sinnlichkeit, die das Anschauen lohnt. Doch innerhalb dieser glänzend imaginierten Vergangenheit gibt es gleichsam keine Gegenwart, keine Story. Deshalb bleibt Martin Scorsese hier der Herr der toten Dinge, niemals wird er der der Menschen. Amsterdam muss beobachten, wie sein Vater, der Führer einer Gang irischer Einwanderer, in der großen Schlacht von Bill The Butcher gemeuchelt wird. Nach sechzehn Jahren kehrt er zurück, nichts als Rache. Er gewinnt das Vertrauen des Butchers, wird beinahe so etwas wie der Sohn des Mannes, der seinen Vater tötete. Scorsese zelebriert neben anderen Mythen auch den Katechismus des Western mit seinem Gebot Du sollst einen guten Gegner achten wie dich selbst. Das ist das Problem. Amsterdam zögert wie Hamlet, beinahe zwei Stunden, seine Rache vollziehen, doch dieses Zögern ist kein erzählter, kein gestalteter Vorgang, es gerät nie in die Betrachtung. Scorsese benötigt dieses Zögern, um sein historisches Panorama zu entfalten, dem er nie interpretierende Bedeutung unterlegt. Damit aber irgendetwas geschieht, muss Amsterdam die schöne Taschendiebin Jenny (Cameron Diaz) treffen, eine unbewegende Beziehung mit der Funktion, Scorsese Zeit zu schenken. Es ist nicht langweilig, es ist nur nicht spannend, es fehlt die Vibration einer Erzählung.

Daniel Day-Lewis als böser Gegenspieler ist gegenüber dem redlichen DiCaprio die interessantere Figur. Der Fleischer als Dandy, wie er mit zynischer Eleganz das Schneiden von Schweinen und Menschen in eines setzt, wie sein Gestus eher dem eines Pariser Trickbetrügers dem eines New Yorker Schlächters gleicht, das gibt ihn, anders als den anderen, Profil und Eigenart.

Am Ende zeigt Scorsese die Skyline der Stadt, wie er sie noch fand beim Drehen. Irgendwann wird die Geschichte der Twin Towers so historisch sein wie heute die der Five Points. Und wenn jemand diese Geschichte erzählt, so wird darin der Satz vorkommen Let’s roll. Das Blut bleibt immer an der Klinge.

Autor: Henryk Goldberg