In den Schluchten der Träume

Warum David Lynch doch keinen großen Film gemacht hat

„Dick Laurent ist tot“ sagt die Stimme in der Gegensprechanlage. Fred Madison weiß noch nicht genau, was das bedeutet, er weiß noch nicht einmal, wer Dick Laurent ist. Das sollte er aber, denn immerhin, er hat ihn umgebracht, so wie er seine Frau… Aber daran erinnert er sich auch nicht mehr. Oder noch nicht? Er weiß noch nicht einmal, daß er der Mann ist, der unten vor der Tür steht und die Todesnachricht überbringt. Fred Madison hat eine ganz merkwürdige Art, sich zu erinnern. „Ich erinnere mich an die Dinge auf meine Weise. Wie ich sie erinnere, nicht, wie es passiert ist“. Wahrscheinlich mag er deshalb keine Videorecorder, was wissen schon die Bilder. Und wir sind gut beraten, diesen frühen Satz für einen wichtigen zu nehmen: Denn genauer wird David Lynch uns dieses änigmatische Labyrinth nie erklären.

Eigentlich muß man die Geschichte erzählen, aber welche? Denn es sind zwei, mindestens zwei. Die eine, die geschieht, die andere, die bedeutet.

Fred, der Jazzer (Bill Pullman) hat seine Frau Renee (Patricia Arquette) umgebracht, aber er weiß es nicht, er will es nicht wissen. Er erfährt es beim Betrachten des geheimnisvollen Videobandes, das unten vor der Tür lag. Renee, verschlossen, karg, leidenschaftslos – „Wenn du willst, kannst du mich ficken, wenn du nach Hause kommst“ -, ging eben nach nebenan, da sieht Fred auf dem Band, er hat sie umgebracht. Todesstrafe, und in der Zelle zerspringt ihn der Kopf und die Wand öffnet sich und ein Haus brennt rückwärts. Im Anfang ist das Feuer und aus ihm wächst das Haus: Die Zeit läuft nach hinten. Vor dem Haus ein Mann, bleich, Fred traf ihn einmal auf der Party bei Andy. Andy ist ein alter Freund von Renee, er hat ihr einmal einen Job angeboten, aber sie weiß nicht mehr, was es war. Der bleiche Mann auf Andys Party sagte zu Fred „Ich bin jetzt bei Ihnen zu Hause, Sie haben mich eingeladen. Ich komme nie, wenn man mich nicht einlädt erklärt der Mann, der der Tod ist. Fred rief in seinem Haus an, und der bleiche Mann, der vor ihn stand, meldete sich am anderen Ende der Leitung. „Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich hier bin. Aber nun geben Sie mir mein Telefon zurück sagte die Stimme von dort, und der Mann hier streckte verlangend die Hand aus. „Wie geht das? hat Fred noch gefragt, aber er wird es nie begreifen: Denn wenn er es wüßte, dann würde es nicht funktionieren. Denn es geschieht in ihm. In einem Bezirk in seinem Inneren, von dem er nichts wissen darf, wenn die Flucht in die Schluchten seiner Träume glücken soll.

Und so weiß er auch nicht, daß er es ist, der eines Morgens in der Todeszelle aufwacht als der Automechaniker Pete. So sieht er sich in einem anderen Film, der davon handelt, wie es auch hätte sein können mit Fred und Renee, die jetzt Pete und Alice heißen. Alice, (Patricia Arquette, nun blond), ist für Pete, was Renee nie war für Fred, sie begehrt, verführt, verschlingt ihn, die schöne, geheimnisvolle Schlampe, ein Traum. Und Alice bekam auch einmal, wie Renee, durch Andys Vermittlung, einen Job bei Dick Laurent, sie zog sich aus vor seinen Gästen, eine Pistole am Kopf, und sie tat es gern. Einmal, Freds und Alices Körper ergleißen draußen in der Wüste bei der Liebe im Licht der Scheinwerfer, flüstert sie ihm ins Ohr „Du bekommst mich nie – denn sie ist nur der Traum, den Fred von Renne träumt. Da verwandelt sich Pete wieder in Fred und sieht, wie Alice, die sich wieder in Renee verwandelt hat, im „Lost Highway Hotel“. mit Dick Laurent schläft. Da tötet er ihn, der Mystery Man, der Todesengel, hilft ihm dabei. Der bleiche Mann zeigt Dick Laurent einen Bildschirm, darauf ist Freds Frau in einem Pornofilm zu sehen, den sie und Dick Laurent sich animiert anschauen. Das ist schon ein Grund, ein Problem zu haben mit seiner Frau. Dann fährt Fred zu seinem Haus und sagt in die Gegensprechanlage „Dick Laurent ist tot. Und oben steht er und hört sich und kennt sich nicht. Nun weiß er, wie der Telefontrick geht, den ihn der bleiche Mann auf der Party zeigte. Aber es nützt ihm nichts.

David Lynch hat einen Film inszeniert, der ist wie ein Bewegen im Orbit, wenn links und rechts, oben und unten, Anfang und Ende bedeutungslose Worte sind, die sich im leeren Raum verlieren. Die bizarre Dramaturgie der Träume, deren einzige Regel die Regellosigkeit ist. Es gibt keine Fixpunkte mehr, die eine Perspektive definieren: Die Perspektiven entstehen im Kopf, ausschließlich.

So wie dieser Film ein kopfgezeugter ist, das ist sein Problem. Denn nie gelingt es David Lynch wirklich, die beiden Filme, die beiden Figuren – Fred und Pete – ernstlich, also künstlerisch miteinander zu verbinden, verstärkt womöglich durch die Besetzung mit zwei Schauspielern, die nichts miteinander zu tun haben in der einzigen Wirklichkeit des Kinos, der sinnlichen Wahrnehmung. Die Imagination, mit der sich Fred als Pete neu erschafft und seine Liebe ein zweites mal leben will, ist eine rationale Konstruktion, die ihre Kreise erst am Ende schließt, eine Konstruktion, die ein Spiel der Gedanken ist, für die der Film keine Bilder hat. Lynch kann diese Gedanken nicht als Kunst behaupten, weil es kein wirklicher Gedanke ist, es ist ein intellektuelles Plaudern im Ungefähren. Es bleibt ein Trick, es bleiben zwei fremde Filme, die ihren inneren Zusammenhang nie aus eigenem Recht zu behaupten vermögen. Denn der stimulierende Impuls dieses Filmes ist nicht seine Geschichte, ist nicht ein Gedanke, sondern, Lynch erzählt es, die versonnene Faszination des Titels und des Dick-Laurent ist-tot-Satzes. Das bleibt nicht folgenlos: Lost Highway gibt sich in seiner Erscheinung wichtiger, als er in seinem Wesen ist, viel ästhetischer Glimmer an der Oberfläche und wenig Substanz darunter, das hat etwas von Kraftmeierei. Und das ist schade, denn darum ist dies kein großer Film geworden, sondern nur ein sehenswert gescheiterter – der indessen in seinem Scheitern noch kreativer, noch spannungsvoller ist als andere im Gelingen. David Lynch verfügt noch immer, nach Eraserhead, nach Blue Velvet und nach Wild at Heart, über das Instrumentarium der großen Filme, über die künstlerische Kraft, über die halluzinierende Kreativität, eigene, geheimnisvolle Innenwelten zu entwerfen.

Der erste Teil ist meisterhaft. Wie Lynch bedrohlich mit Raum und Ton und Farbe spielt, das Haus zu Kafkas Schloß in den Zeiten des Designs mutiert, wie die Tonspur die Geräusche behandelt wie Kostbarkeiten – das ist der Entwurf, das sind die Mittel für einen wunderbaren Film: Nur der Film ist es nicht. Es ist wohl auch, in all dem Seelenkram, viel beliebiger psychoanalytischer Quark dabei: Und nichts belegt das Scheitern des Entwurfs deutlicher, als das der Quark bemerkbar wird.

Am Anfang sehen wir eine Zigarette rot erglühen, und da es David Lynch ist, halten wir den Atem an, denn in Wild at Heart glühte so ein Streichholz, bevor es explodierte. Diese Zigarette verglüht, einfach so.

Autor: Henryk Goldberg

Text geschrieben 1996

Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine