Das Recht, vulgär zu sein

Goldener Bär in Berlin

Vermutlich war Larry Flynt ein unsympathischer Mann. Vermutlich liebten wir diesen Mann, wenn er uns im Leben begegnete, nicht sonderlich. Und vermutlich hat sich kaum je eine Persönlichkeit mit den Umständen, die ihr Wirken begünstigten, so bizarr verbunden, um Bedeutung zu stiften. Denn Larry Flynt, 54, ist ein Pornoproduzent, der einen Beitrag zur Befestigung der Demokratie leistete. Und so wurde Larry Flynt ein Held, ob er das wollte oder nicht. Ob wir das wollen oder nicht.

Und, merkwürdig genug, die tatsächlichen Schlachten eines Pornographen um sein Grundrecht auf Geschmacklosigkeit muten heute beinahe nostalgisch an, der Zeitgeist ist wieder restritiv gestimmt. In den USA kollidierte „The People vs. Larry Flynt“ – der deutsche Verleihtitel ist außergewöhnlich dümmlich – mit den Protesten radikaler Feministinnen, gestern ließ Milos Forman in Frankreich die Plakate zum Film zurückziehen, katholische Geistliche hatten geklagt. So schreibt sich dieser Film, der eine Geschichte aus dem wirklichen Leben ist, im wirklichen Leben fort. „Wenn das Gesetz mich beschützt, dann wird es jeden beschützen“ sagt Larry Flynt und: „Der Preis der Freiheit bin ich“. Dieser Preis, den wir gelegentlich befragen, ist das Thema.

Milos Forman ist, anders als sein Produzent Oliver Stone in „Nixon“ und „JFK“ es war, kein Regisseur mit einem rasenden moralischem Impuls. Ihn interessieren nicht die Motive seines Helden, er erzählt – ohne sich auf die Psychologie seines Sujets einzulassen – die Oberfläche einer Geschichte und er erzählt ihre Wirkungen. Das ist ein Vorzug, denn so bekennt er sich zu seinem Thema. Er fragt nicht, ob es geschmacklos sei, in einer Satire den Inzest eines prominenten Predigers mit seiner Mutter zu unterstellen, er fragt, wie das Oberste Gericht der USA in es diesem Falle tat, nach dem Recht, geschmacklos zu sein.

Und er tut es auf eine Weise, die überraschend geschmackvoll ist: So dezent wurde selten über Pornographie gehandelt.

Milos Forman hat einen, in seinen formalen Mitteln, durchaus konventionellen Film inszeniert, neben Stones „Natural Born Killers“, mit dem er den Hauptdarsteller gemein hat, einen nachgerade konservativen. Doch wie in „Amadeus“, wie in „Einer flog übers Kuckucksnest“ beglaubigt der Regisseur sein Gespür für die Möglichkeiten von Schauspielern: Woody Harrelson ist für einen Oscar nominiert und daß Courtney Love es nicht ist, darf als eine Aussage über die Auswahlkriterien eher gelten denn als eine über die herausragende Amateur-Schauspielerin. Woody Harrelson und Courtney Love tragen den Film. Sie entwickeln, wie Schauspieler immer, zwanghaft eine Beziehung zu ihren Figuren und ein Verständnis, um nicht zu sagen, einen Respekt, der wohl die kritische Distanz verkürzt und eine Art von psychologischer Weichzeichner ist – denn den echten, den wirklichen Larry Flynt hätten wir womöglich nicht sehen wollen. Dafür aber wird das Interesse an den Kunst-Figuren ständig behauptet. Ein schriller, mitunter psychopathischer Verkäufer feucht-glänzender Schmuddelhefte, eine obszöne Frau – und beide sind ein wunderbaares Paar. „Du scheiß Aids-Junky“ sagt Larry zu seiner Frau Althea, „Du irrer Krüppel“ sagt Althea zu ihrem Mann Larry: Und beide haben recht und selten war mehr Zärtlichkeit im Kino. Courtney Love, die Witwe Kurt Cobains und wohl erfahren in allem, wovon sie hier spricht, behauptet ihre Figur schrill und stark in einer exorbitanten Leistung. Wenn sie ihre Liebe erklärt, vulgär, aggressiv, in einem Wirlpool, worin sie vordem mit Larry und zwei Mächen tobte, dann ist dies ein Vorgang, der berührender ist, als vieles, was wir unter klassischen Balkons säuseln hörten.

Einmal erhält Larry Flynt 25 Jahre, der Richter wirkt so unsympathisch, wie der Schauspieler wirken muss, der dem Helden 25 Jahre gibt. Der Richter wird gespielt von Larry Flynt, dem richtigen.

Autor: Henryk Goldberg

Text geschrieben 1996

Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine