Diesseits und jenseits der Berge

Der „Zug des Lebens“ und der Zug der Zeit

Schlomo ist der Dorftrottel. Und Schlomo hat eine Idee. Denn das Leben im Schtetl ist bedroht. Also, sagt Schlomo, deportieren wir uns doch selbst und bauen einen Zug. Das ist eine Idee, die nur ein Trottel und ein Jude haben kann. Denn jenseits der Berge drohen die Deutschen. Und wo sind wir?
Radu Mihaileanu, der in Frankreich lebende Rumäne, ist ein Jude, ein Trottel ist er nicht. Und er kam, vor Roberto Benigni, auf diese Idee, der Italiener hatte die Rolle des Dorftrottels abgelehnt, um dann seinen eigenen Film zu drehen, „Das Leben ist schön“. Und natürlich stellt dieser zweite Film, der eigentlich der erste war, die Frage, ob das nun bereits ein Trend sei und wohin er führe.
Er führt in eine noch weit entfernte Zukunft. Denn irgendwann einmal, wenn der Holocaust jenseits der die Menschen noch betreffenden Berge liegt, wenn er in der historischen Rückschau also den dann Lebenden so entrückt ist, wie es uns die Kreuzzüge sind, dann wird er ihnen sein, was jene uns sind. Das ist kein Zynismus, niemandem stockt heute der Atem beim Gedenken an die christlichen Märtyrer Roms. Sechs Millionen Tote fallen dann in niemandes Verantwortung und Familie mehr, sie werden die Frühgeschichte der Menschheit erinnern. Dann sind wir Steinzeit.
Das ist natürlich nicht unsere Gegenwart und die nähere Zukunft, das können sie nicht sein. Aber Filme wie diese dürfen als vorsichtige, als sensible Indikatoren dafür gelten, wie der historische Abstand, zunächst sachte, die Perspektive verändert. Im Augenblick ist die Gefahr nicht auszuschließen, dass zwei gute Filme einen „Trend“ bewirken, der mit banger Skepsis zu erwarten wäre. Und wenn die heitere Behandlung des Holocaust zum unbefragten Standard wird, wenn sie keiner besonderen Begründung mehr bedarf, dann steht es übel.
Der „Zug des Lebens“ aber ist ein sehr schöner Film und ein sehr komischer. Das macht ihn zum ethischen Grenzfall. „Das Leben ist schön“ war bereits weiter als der „Zug des Lebens“. Benigni war tiefer, weil er das KZ, das wirkliche KZ, für sein Kind als ein Spiel interpretierte, so waren die Bilder „wirklich“ und die Texte „komisch“, so war hinten die SS und vorn der Komiker. Bei Mihaileanu gibt es nur Komiker, er inszeniert ein wirkliches Spiel, das ist lustiger und flacher.
„Es war einmal“ gehen die ersten Worte dieses Filmes. Ein Märchen, das sich zu seiner burlesken Unwirklichkeit bekennt und also den Kontakt zu seinem Hintergrund, der Auschwitz heißt, nie ganz verliert. Es gibt viel gewollte Anatevka-Folklore im jiddischen Idiom, viel inszenierte Naivität. Jüdischer Humor entsteht, wenn die Melancholie und die Traurigkeit zum Maskenball erscheinen. Die alten Juden palavern, die jungen gerieren sich als Kommunisten und ernennen einen Genossen zum Deputierten des Sowjets des übernächsten Waggons: weil in ihrem die schöne Esther reist, auf die sie selbst gern kämen. Und die, die sich zunächst weigern, die deutschen Wachmannschaften zu spielen, haben den damit verbundenen Komfort übersehen, was sie böse macht auf die „Faschisten“. Sie spielen Räuber und Gendarm, und wenn sie in die rettende Frontlinie geraten, links und rechts die Granaten, in der Mitte der Zug der fröhlichen Leute, dann ist es, als inszeniere Mihaileanu einen jüdischen Witz: links vom Wagen Schabbes, rechts vom Wagen Schabbes…
Das Ende, das in einem stehenden, einminütigen Bild radikal auf die Wirklichkeit verweist, hebt den Film nicht auf, wie es gelegentlich heißt, denn es kann nicht aufheben, dass wir uns prächtig amüsiert haben. Das ist ein sehr schöner und seriöser Film, ein jüdisches Märchen. Man muss jedoch hoffen, dass der „Zug des Lebens“ nicht zum Zug der Zeit wird. Denn noch leben wir nicht jenseits der Berge.

Autor: Henryk Goldberg

Text geschrieben: 1998

Text: veröffentlicht in filmspiegel