Zeit ist Glück

Andreas Dresens schöner, sanfter Film

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Einmal, im Urlaub, hat Uwe 32 Cocktails getrunken, noch beim Betrachten der Dias möchte er vor Erinnerung wohlig brechen. Sonst verkauft Uwe Currywurst und Bierbüchsen, da ist nur die Musik inclusive, die die Penner neben seiner Imbissbude machen, auf halber Treppe. Uwe ist ein Pfundskerl, doch wenn Ellen Hans-Peter, den Vogel fliegen lässt, da wird er schon mal sauer. Aber er mag Ellen und die Kinder, auf seine Art. Ellen verkauft Parfüm und versorgt die Kinder, es hat sich so ergeben. Aber wenn Chris sie auf die Sitze seines Autos legt, dann erinnert sie sich an die Sehnsucht, die einmal war.
Chris, Magic Chris, sitzt im Powertower und verbreitet Dauerpower, Radio 24, die besten Hits der letzten 24 Jahre, das Studio in der 24. Etage. Aber Chris ist nicht mehr 24. Er sieht aus und spricht, wie einer aussieht und spricht, der diese dynamische Fröhlichkeit in Frankfurt an der Oder verbreiten muss, wo niemand erwartet, dass er das selber glaubt, wo der deutsche Osten auf den polnischen Westen trifft.
Katrin arbeitet an dieser Grenze, sie fährt mit der Vespa in die Pampa. Wenn der Freund ihrer Tochter wortlos den Pudding aus dem Kühlschrank holt, dann wird Katrin aber rebellisch: Der Pudding bleibt hier! So energisch war sie lang nicht mehr.
Sie leben auf Höhe der halben Treppe, etwa in der Mitte, wo das Leben diese oder jene Richtung zu nehmen vermag. Und die Wahlfreiheit ist nicht ganz so unbeschränkt, wie junge Intellektuelle das mitunter meinen, ehe sie Pressesprecher in einer Marmeladenfabrik sind.
Das Besondere an diesem Film, der vom langsamen Aufgehen der deutschen Ostmenschen im deutschen Westland erzählt, ist die Liebe die er hegt für seine Figuren. Lauter Looser, mehr oder weniger, lauter Tristesse, mehr oder weniger. Leben, die sich trefflich vorführen ließen als das, was man als Intellektueller ganz, ganz anders macht und viel, viel besser weiß. Dresen aber hat einen sanften Blick auf seine Leute. Er ist nicht wie sie, aber er respektiert ihr Leben als das einzige, das sie haben. Es könnte sein, dass diese tiefe Sanftmut zum Menschen als eine Hinterlassenschaft seines Vaters auf Andreas Dresen gekommen ist. Im Abspann steht In Erinnerung an Adolf Dresen. Besser ist dieser Humanist nie geehrt worden als durch den Film seines Sohnes.
Es geschieht nichts Erzählbares, was irgend überraschend wäre. Ellen und Chris passiert ein Verhältnis, es ist diese Sehnsucht. Alles wie gewöhnlich, alles wie bei fast allen. Er traut sich dann doch nicht und geht nach Hause, sie will nicht zurück. Die Partner verstehen es nicht, die immer gleiche, immer sinnlose Was-hab-ich-falsch-gemacht-Frage, auf die es immer nur die ebenso sinnlose Es-hat-nichts-mit-dir-zu-tun-Antwort gibt.
Dresen beobachtet seine Leute und ihr Leben mit einer sanften Ironie, die kaum auf Kosten der Figuren geht, er fängt sie ab, ehe sie in die Karikatur stürzen. Ein Humor und eine Melancholie, die einander stützen wie der Lahme und der Blinde. Bei aller Liebe zum Detail scheinen Menschen und Geschichte merkwürdig allgemein, merkwürdig unkonkret zu sein. Projektionsflächen für ein Publikum, dass seine eigenen Erfahrungen darauf abbilden kann, wie es eingeladen ist, die unerzählten DDR-Biografien der Figuren zu entwerfen.
Dieser Film, dem Kritiker-Ritual zu entsprechen, ist mit der etwas modischen Digitalkamera gedreht, verwaschene Farben, verwischte Bewegungen. Die Kamera weiß nicht mehr als die, denen sie folgt, sie lebt mit ihnen, unruhig wie sie, ziellos und nervös. Sie scheint hier Gleiche unter Gleichen, in so verspielter, lässiger Beiläufigkeit wie die Schauspieler. Und das ist, nächst der Haltung, das Eigentliche dieses Filmes. Steffi Kühnert, einst in Weimar engagiert, Gabriela Maria Schmeide, Torsten Merten und Axel Prahl finden zu einem intensiven Partnerspiel, wie es eher am Theater vorkommt, sie spielen wie improvisiert, als entwickelten sie Figur und Text im Augenblick der Entäußerung.

Glück, sagt Uwe, hat irgendwie was mit Zeit zu tun. Andreas Dresen lässt sich und seinen Schauspielern jede Zeit der Welt. Mag sein, dass man ihnen deshalb ihr Glück so ansieht.

Autor: Henryk Goldberg

Text geschrieben: 2002

Text: veröffentlicht in filmspiegel

Bild: Universal Pictures