Die Gleichmut von Eis

Noi Albinoi, ein isländischer Film erzählt über das Fremde

Jemand kippt Schnee in ein Waschbecken, als könne er ihn so vernichten. Doch der Schnee ist endlos. Auf den Bergen, die er bedeckt, auf den Straßen, über die er treibt. Und ein merkwürdiges Blau, das alles überwölbt, eine Blässe, ein Himmel ohne Kraft. Ein Himmel, unter dem einer schnell ins Träumen kommt von anderen Himmeln.

Die Isländer haben mit die höchste Lebenserwartung dieser Welt, das hat seinen Preis. Von diesem Preis erzählt der Isländer Dagur Kri in seinem Debütfilm Ni Albini.

Ni, der Albino, der Mutterlose, der Verweigerer. Sein Vater, der seinen Hund Elvis Aaron nennt, singt manchmal In the Ghetto und trinkt fast immer. Der Sohn ist eine merkwürdige Erscheinung, selbst die Glatze wirkt gleichsam unentschlossen, als wisse niemand recht, ob sie das Ergebnis einer Rasur oder einer Krankheit sei. So wie niemand weiß, wohl nicht einmal sein Regisseur, ob dieser Junge ein Psychopath ist oder ein Aussteiger, einer, der einmal lieben oder töten wird. Vielleicht auch, dass er endet wie sein Vater. Eine solch radikale Reduktion auf die reine Beobachtung ist selten und hat ihre Gefährdungen. Der Regisseur weigert sich, mehr über seine Figur zu wissen als diese selbst. Das macht den Zuschauer zum Beobachter einer unverstandenen Fremdheit eine Situation, in die er auf der Straße nur für Minuten auszuhalten hat.

Manchmal, wenn Ni ohne jedes Material zur Schule kommt, und sie schreiben eine Arbeit, dann leiht er sich einen Bleistift vom Lehrer, schreibt seinen Namen auf das leere Blatt und geht, es interessiert ihn nicht. Manchmal, wenn er keine Lust hat, dann gibt er David ein kleines Diktiergerät mit in die Schule, seinem Stellvertreter. Manchmal, wenn er bei dem Buchhändler des Nestes sitzt, dann liest der ihn missmutig Kierkegaard vor und wirft das Buch in den Papierkorb, weil es so hoffnungslos ist. Aber der Buchhändler hat eine Tochter und die ist eine Hoffnung. Das Mädchen wirft eine Scheibe ein und sie gehen in das Museum mit den ausgestopften Tieren, dort ist es am lebendigsten. Doch als er mit dem Mädchen fliehen will, nachdem sie ihn von der Schule flog, da hat sie Angst.

Das ist ein merkwürdiger Film. Dagur Kri beobachtet seine Figuren mit dem Gleichmut von Eis. Er erzählt uns nichts über diesen Jungen, nichts, was ins Innere reicht. Er gönnt ihm keine Geschichte, nur die Impressionen eines Lebens, das so isoliert und einsam ist wie die Insel, auf der er lebt. Die poetischen Ausrufungszeichen mögen gelegentlich ein wenig heftig geraten, doch das ist nicht das Entscheidende. Denn diesem, mitunter angestrengt wirkenden und auch anstrengenden Film eignet eine merkwürdige Kraft und Intensität, die vieles von dem, was sich rational dagegen sagen lässt, emotional auflöst wobei schwer auszumachen ist, ob sich diese Kraft eher der Kunst verdankt oder der Exotik. Vorausgesetzt ist hier in jedem Falle ein Zuschauer mit der Bereitschaft, sich auf diese beinahe wertfreie Beobachtung einzulassen, einzulassen auch auf die beinahe dokumentare Weise, Menschen und Landschaft zu sehen, die im Visuellen einander so ebenbürtig scheinen, wie es Gespräche und Geräusche auf der Tonspur sind.

Die Natur ist auch die Einzige, die Erbarmen mit dem Jungen hat, die ihn versteht, was sonst niemand vermag. Und so schenkt sie ihm eine Katastrophe, die allen das Leben kostet, die sich um ihn mühten. Er nimmt es hin mit Gleichmut und träumt weiter seinen Traum, Palmen und Sand und Wärme. Dieser Gleichmut des Eises ist nicht freundlich, doch der Junge ist wie er ist, und er wird zu keinem Ende hin erklärt und aufgelöst, so wie der Zuschauer nicht erlöst wird von seinen Fragen. Als Dramaturgie ist das Verfahren irritierend so wie der Zustand es im Wirklichen ist.

Autor: Henryk Goldberg

Text geschrieben  2003

Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine