Tarsem Singhs Variante des Serienkiller-Themas

Als er vor ungefähr zehn Jahren mit Macht in unser Kino-Leben trat, schien es, als könne er unmöglich etwas Selbstverständliches werden. Zu radikal wollte der Serienkiller alle Aufmerksamkeit. Er schockierte und brach mit Sehgewohnheiten, beschrieb einen Weg zum Rand des Erträglichen – dahinter musste die Wahrheit liegen. In Gestalt von Hannibal Lecter, (der im selben Jahr wie Bret Easton Ellis‘ American Psycho(1990) zuschlug, oder als Titelheld in Henry: Portrait of a Serial Killer warf er eine Menge Fragen auf. Und doch war er andererseits jene Kinogestalt, mit der sich Anfang der neunziger Jahre Antworten zum Verhältnis von Kultur, Gesellschaft und Gewalt verbanden.

Seitdem hat der Serienkiller für so ziemlich alles herhalten müssen. Er war in romantische Komödien verstrickt, trieb sich auf der Straße der Roadmovies herum, bekam es – zunehmend ironisch gebrochen – mit jeder Gefühlslage des Kinos zu tun. So überlebte er sich selbst und verlor mit dieser Überpräsenz seine Faszination als soziale Metapher oder abgründige Kraft. Um es mit den Taten Hannibal Lecters zu sagen: Der Serienkiller weidete sich selbst ans.

Mit Tarsem Singhs The Cell konnte er jetzt noch einmal die US-Kinocharts erobern. Kurz nachdem Mary Harrons Roman-Verfilmung American Psycho seine Achtziger-Jahre-Wurzeln quasi historisch aufbereitete, macht der Serienkiller nun Jennifer Lopez das Leben schwer. Dabei sieht es fast so aus, als wüsste The Cell längst um den kritischen Zustand seines ausgelutschten Bösewichts: Denn der von Lopez gejagte Mörder ist körperlich längst tot.

Kurz nachdem der Psychopath Carl Stargher (Vincent D’Onofrio) sein neuestes Opfer in die von ihm konzipierte, vollautomatische Todesfalle gesteckt hat, erleidet er eine Art Schock und fällt ins Koma. Die FBI-Agenten um Peter Novak (Vince Vaughn) kommen nur Minuten zu spät. Ihr Gefangener wird nie mehr das geheime Versteck seiner Folterhöhle preisgeben können, in dem sein letztes Opfer nur noch wenige Stunden zu leben hat. „Eine seltene Form von Schizophrenie“ hat Stargher an den Rand des Jenseits befördert. „Er ist verschwunden“, diagnostiziert ein Spezialist, „wie in einem schlechten Traum, aus dem er nie mehr erwachen wird.“

An dieser Stelle kommt Jennifer Lopez als Psychologin Catharine Deane ins Spiel. Sie arbeitet mit anderen Wissenschaftlern an einer neuen Technologie, mit der Menschen sich gegenseitig in ihrem Unterbewussten besuchen können. Ein Heilsversprechen für Autisten und Koma-Patienten. Catharines neuer Auftrag ist klar: Sie muss sich in die Psyche des entschlummerten Serienkillers begeben, um dort nach Anhaltspunkten für das Versteck des letzten Opfers zu suchen.

Being Carl Stargher. Nachdem alle äußeren Erscheinungsformen des Kino-Serienkillers durchdekliniert sind, geht es jetzt hinein ins Innere desselben. Letzte Ausfahrt Psyche, sozusagen. Dieser Schritt ist ebensowenig eine Überraschung wie die Erfahrung, dass es im Kopf des Killers ganz nach Schema F zugeht. Wie wir seit Das Schweigen der Lämmer wissen, steckt in jedem Serienkiller ein perverser Künstler. Und darum sieht es in Carl Stargher wie in einem Sammelsurium dunkler „Filmkunst“-Geschichte aus. Düstere Kellergewölbe, Zahnräder, unendliche Treppen, üppige mittelalterliche Folterszenarien, Körpermutationen, kalte Blässe, ordentlich Blut und jede Menge abrupt wechselnde Kino-Zitate älterer und jüngerer „Meister“: Viel David Lynch und Peter Greenaway z.B., etwas Ingmar Bergman und Jean Cocteau sowie eine Prise von Coppolas Bram Stoker’s Dracula.

Jennifer Lopez darf dabei als Mama und Vamp möglichst sexy zwischen Marien-Gestalt und Amazone oszillieren, was unangenehm perfekt in ihr Star-Profil passt. Darum geht es am Ende dann auch nicht nur um die Rettung des letzten Opfers, sondern auch um die Erlösung der „guten Seite“ in Carl Stargher. Ein Herz für das Kind im Killer: Der Serienmörder ist tot, seine Seele durchmessen, und wir dürfen uns nach dem Erfolg von The Cell auf weitere „posthume“ Ausbeutungen gefasst machen.

Autor: Jan Distelmeyer

Dieser Text ist zuerst erschienen in: epd film 10/ 2000