Als 1995 Ole Bornedals gefeiertes Kinodebüt Nightwatch – Nachtwache (Nattevagten) aus Dänemark auch in Deutschland für Furore sorgte, wurde ihm von mehreren Seiten postwendend das Hitchcock-Zertifikat umgehängt. Ein erdrückend düsterer Thriller, der sich von außen langsam und unaufhaltbar dem Grauen nähert – was lag da näher, als Alfred Hitchcock als Vergleichsgröße herbeizuzitieren. Diese Parallele scheint sich nun fortzusetzen. Denn ebenso wie Hitchcock seinen englischen Erfolg The man who knew too much von 1934 noch einmal, 1956, in den USA verfilmte, legt Ole Bornedal nun mit Freeze – Alptraum Nachtwache sein amerikanisches Nattevagten-Remake vor.
Wie jede Hollywood-Wiedergeburt eines europäischen Erfolges hat es Freeze logischerweise vor allem bei seiner Rückkehr nach Europa schwer. Man kennt die Geschichte von Martin, dem Jurastudenten, der bei seinem neuen Job als Nachtwächter in der Pathologie in den Verdacht gerät, ein gesuchter Frauenmörder zu sein. Noch in bester Erinnerung sind die neonkalten, langen Flure vor der Leichenhalle, die Grabesstille („Besorg dir ein Radio, mein Junge“), die in grünlichem Formaldehyd schwimmenden Extremitäten und die ungesühnten Untaten eines ehemaligen Nachtwächters, die wie in Kubricks The Shining seltsam lebendig werden. All das war und ist ein sicheres Szenario für einen Thriller. So versucht Freeze dann auch gar nicht, Geschichte und Atmosphäre allzusehr zu verändern, sondern verläßt sich weitestgehend auf das Altbewährte, vorgetragen von Hollywood-kompatiblen Schauspielern: Euro-Jungstar Ewan McGregor als Martin, Josh Brolin als Martins zynischer Freund James, Patricia Arquette als Martins Freundin Katherine und Nick Nolte als der seltsame Inspector Cray. Wer weiß, was geschieht, kann/muß sich auf die Feinheiten konzentrieren.
Das Remake beginnt mit dem brutalen Mord an einer Prostituierten, der somit noch vor dem ersten Auftritt Martins und seiner Freunde die kommende Bedrohung realisiert. Im Gegensatz zum Original, bei dem 2/3 des Films vergehen bevor die erste Bluttat sichtbar geschieht, und die Gewalt langsam in den studentischen Alltag einbricht, ist sie hier als Ankündigung von Beginn an präsent. Indem uns die reale Existenz des Grauens vor Augen geführt wird, beschränkt sich Freeze selbst in seinen Möglichkeiten, mit dem Horror in unseren Köpfen zu spielen, der als phantastische Bedrohung über den Szenen in den nächtlichen Hallen der Pathologie liegt. Die quälende Ungewißheit wird gegen die Erwartung ausgetauscht.
So erwächst aus dem Mangel an Vertrauen in die Mittel des Originals und dem gleichzeitigen Festhalten an der alten Grundstruktur eine Dramatisierung, die letztlich die ehemaligen Stärken demontiert. Wenn Martin seinen Job als Nachtwächter beginnt, sind es in Freeze nicht allein die Stille und die sich im Dunkel der Gänge verlierenden Phantasien, die Martin und uns ängstigen – diesmal muß vielmehr ein Sturm von draußen dunkle Regenplanen ge-spensterhaft bewegen und für übliches Gruselambiente sorgen. Damit jedoch tritt Freeze – Alptraum Nachtwache nicht nur in die Reihe der Genre-Dutzendware zurück, sondern untergräbt gleichsam die klaustrophobische Athmosphäre dieses Ortes, dessen jenseitige, luftleere Abgeschiedenheit über den simplen Effekt in die Welt zurückgeholt wird. Doch auch einer der wenigen interessanten Momente des Films resultiert aus einer Veränderung. Anstatt sie wie in Nattevagten zu skalpieren, „markiert“ der perverse Serienkiller in Freeze seine Opfer, indem er ihnen die Augen herausschneidet. Dieses Erkennungszeichen, mit dem Freeze der aktuellen Renaissance des Augenmotivs im Mainstream-Kino folgt, ist mehr als nur schockierendes Detail, weil es in der Inszenierung des Inspector Cray seine Entsprechung findet. Nick Noltes Gesicht wird bei seinen ersten Auftritten so hart ausgeleuchtet, daß seine beschatteten Augen kaum zu sehen sind: lange bevor klar wird, was Cray mit den Opfern wirklich verbindet, ist er auf der Bildebene bereits mit ihnen verknüpft.
In Nattevagten wurde damals eine Menge über Kino und Filme geredet. Bezeichnenderweise verlieren Ewan McGregor, Josh Brolin und Patricia Arquette kein Wort mehr über dieses Thema, das Freeze dafür um so stärker auf eine andere Weise beherrscht, die mit der Vergangenheit dieses Films zu tun hat. Anders gesagt: Der Vergleich mit Hitchcock ist immer undankbar, und eigentlich hatte er schon bei Nattevagten mehr vom Wunsch nach festen Orientierungsgrößen als von Bornedals Film erzählt. Freeze offenbart die Überschätzung, die in dieser Gleichsetzung liegt, und deutet zugleich mit seinen Schwächen auf die tatsächlichen Stärken des Originals.
Autor: Jan Distelmeyer
Dieser Text ist zuerst erschienen in: epd film 8/98
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