Witz, Wut und Verzweiflung

Ein herrlicher Tag für Muttermord: Burr Steers Tragikomödie „Igby!“

Überall, wo ich nicht bin, ist es besser. Aber ich bin immer da und gleichzeitig nirgendwo – wie kann ich überhaupt wissen, was ich bin, wenn ich alle Hände und Köpfe voll damit zu tun habe, nicht so zu werden wie meine Eltern? Und wie sollte selbst diese Bestimmung ex negativo hinhauen, wenn mir diese Leute als fremder Mittelpunkt meiner Eigenheit so derartig unverständlich und fern erscheinen? Oder so nah, dass ich sie einfach nicht loswerden kann?

Das amerikanische Kino hat sich vor langer Zeit sein eigenes Genre für diese Bewegung geschaffen. Seit der erfolgreichen Verbindung von Kino und Jugendkultur in den fünfziger Jahren erzählen Coming-Of-Age-Filme von jener Flucht nach vorn, die immer auch zurück führt, um sich selbst loszuwerden und (vielleicht) dabei zu gewinnen. Bis heute stehen traditionell männliche Teenager im Zentrum solcher Geschichten und damit automatisch im Vergleich zu den Ikonen ihrer eigenen Genre-Familie. Wo ist noch Platz zwischen J.D. Salingers Holden Caulfield und dem ewigen Coming-Of-Age-Filmstar James Dean, zwischen Mike Nichols‘ Reifeprüfung und Peter Bogdanovichs Die letzte Vorstellung oder zwischen Whit Stillmans Metropolitan und Wes Andersons wunderbarem Rushmore?

Hier! Mit Verve stellt sich das gefeierte Debüt von Regisseur und Drehbuchautor Burr Steers in diese Tradition und behauptet seinen Platz. So wie die Titelfigur seinen eigenen Namen gegen jenen durchgesetzt hat, den ihm seine Eltern gegeben haben: Der 17-jährige Jason Slocumb jr. ist Igby (Kieran Culkin), und wenn man ihn fragt, was er eigentlich tue, erklärt Igby, er bereite sich aufs Fortgehen vor. Er flieht vor der Militär-Highschool, auf die ihn seine Mutter Mimi (Susan Sarandon) nach dem letzten Schulverweis schicken will, vor seinem eiskalten Yuppie-Bruder Ollie (Ryan Phillipe), vor seiner ganzen Verwandtschaft, und er hat allen Grund dazu. Nur wenige Szenen braucht es, damit wir das Aushängeschild „dysfunktional“ über der millionenschweren Familie erkennen können. In jeder Nebenrolle steckt ein Star, dem schon ein Auftritt reicht, sein Rollenbild gerade, das heißt hier: schief zu rücken. Susan Sarandon findet als im Reichtum ermattete Diva zwischen Krebsoperation und Tablettensucht immer noch Zeit für ein gerüttelt Maß Sarkasmus. „Seine Zeugung war ein Akt der Feindseligkeit“, bemerkt sie über Igby, „warum sollte sein Leben anders sein?!“ Bill Pullman hat sich in Gestalt von Jason sr. in sein Inneres und örtlich in das, wie Igby sagt, „Maryland-Heim für total Verrückte“ verabschiedet. Derweil breitet Jeff Goldblum als Patenonkel D.H. mit gefrierendem Lächeln die Arme im Maßanzug aus, um – „Familien sollten wie Firmen geführt werden“ – den flüchtigen Schutzbefohlenen unter seine Fittiche in New York zu nehmen. D.B. hatte Holden Caulfields nach Hollywood verzogener Bruder aus dem Fänger im Roggen geheißen.

Schon in dieser Grundkonstellation würde Igby! scheitern, hätte Burr Steers seinen Helden als reines Opfer seiner Verhältnisse gezeichnet, das durch allerlei skurrile Verwirrungen – zum Beispiel kommt Igby bei des Patenonkels heroinabhängiger Mätresse (Amanda Peet) aus der Kunstszene unter und letzterem damit in die Quere – pittoresk verstört hindurchgeht. Weil aber Kieran Culkin selbst Teil seiner Umweltbeschreibung ist, „Ich ertrinke in Arschlöchern!“, wahrt Igby! sein Potential. Liebe bleibt ein fernes Versprechen, Sterbehilfe für die lebensmüde Mutter unweigerlich nahe am Rache- oder Bereicherungsmord.

Eine unversöhnliche und zugleich lakonische Härte liegt sowohl über dem Clan der Slocums als auch über Steers Film, die glücklicherweise genau dann in den Vordergrund tritt, wenn die Bilder um den verlorenen Jungen mit Kaki-Bundfaltenhose und umgeschlungenem Schal in den Parks und Cafés von New York zu rund werden. Wenn die Reichen mit jeder Faser reich sind, die Künstler verlotterte Lebenskünstler, und wenn die Romantik mit einem Mädchen namens Sookie Sapperstein (Claire Danes) ins Spiel kommt. In einem dieser Momente des scheinbar zu smarten Aufgehens, in denen Steers Film auf seine Art die selbstbewussten Züge des aalglatten Ollie anzunehmen droht, wird Jeff Goldblum seine Figur um eine Nuance erweitern und Igby brutal und präzise zusammenschlagen: „Du hast in den Brunnen gepisst, aus dem Du trinkst.“

Solange Igby! in dieser Schwebe bleibt, vermeidet er sein eigenes Klischee. Kieran Culkin selbst hält diese Balance, indem er sowohl den großäugigen Teenager im Erwachsenenwirrwarr verkörpert als auch den großmäuligen Direktor dieses Zynismuszirkus‘. Damit aber bleibt Igby! auch hinter dem zurück, was in seinem Rahmen möglich gewesen wäre. Die Begegnungen zum Ende, in denen für Augenblicke tatsächlich eine erst noch zu entdeckende Nähe zwischen den verhassten Brüdern und zwischen Igby und seiner Mutter aufblitzt, erzählen auch vom Scheitern dieses Films. Indem sich Burr Steers zu sehr auf Kieran Culkin konzentriert, verblassen die übrigen Figuren trotz des außerordentlichen Ensembles und verlieren damit die Chance, den Bindungen, die zu Igbys Wut, Witz und Verzweiflung wesentlich gehören, lebendige Bilder zu geben.

In einigen Momenten scheint es, als wisse der Film darum. Letztlich geht es nicht um ein Einzelschicksal, sondern – wie kann es in Sachen Liebe und Familie anders sein – um schmerzhafte, merkwürdige, wunderschöne und unzumutbare Zusammenhänge. Doch weil sich Igby! auch hierbei vor allem auf seine Titelfigur verlässt, verliert er in dem Augenblick, als die Geschichte des Mit- und Gegeneinander erzählt werden soll, die Komplexität der familiären Bande an einen psychologischen Realismus: Ein Flashback bebildert den finalen Zusammenbruch des Vaters und nagelt damit das Trauma des Protagonisten fest. Diese Lösung, quasi ein gutachterliches Erinnerungsbild, ist zu einfach; es passt nicht zu Igby und lässt in seiner Geschlossenheit offen, wohin uns Igby! noch hätte führen können.

Autor: Jan Distelmeyer

Diese Kritik ist zuerst erschienen in der: tageszeitung (taz) 04/ 03