Jeder Raum ein Sarg

Alejandro Amenábars Gespenstersonate „The Others“ mit Nicole Kidman

Das Tageslicht, heißt es, macht dem Spuk ein Ende. Es verjagt die Schatten und treibt die Geister zurück nicht nur Dracula werden die ersten Sonnenstrahlen zum Verhängnis. „Bei Lichte besehen“ haben die Gespenster keinen Bestand, sie sind in der Dunkelheit zu Hause oder in jenem „Reich der Schatten“, bei dem man sich unwillkürlich fragt, welche Lichtquelle eigentlich die Schatten im Dunkel werfen mag. Vielleicht ist es der Blick selbst, unser Augenlicht.

„Dieses Haus ist wie ein Schiff“, sagt Grace (Nicole Kidman). Wie eindringendes Wasser muss das Licht vom Innern des viktorianischen Landsitzes fern gehalten werden durch das sorgfältige Schließen unzähliger Vorhänge und Türen. Bevor eine nächste Tür geöffnet wird, muss die vorherige verschlossen sein. „Was immer Sie tun“, lautet Grace‘ gestrenge Anweisung an das neue Hauspersonal, das kurz nach Kriegsende 1945 in ihren Dienst tritt, „öffnen Sie nie die Vorhänge!“

Für uns und die Neuankömmlinge Mrs Mills (Fionnula Flanagan), Mr Tuttle (Eric Sykes) und die stumme Lydia (Elaine Cassidy) gilt es, das seltsame Ritual zu erlernen und seine zwei Seiten zu verstehen: Die von Grace verordnete Vorsichtsmaßnahme geschieht zum Schutze ihrer Kinder Anne und Nicholas, die unter einer extremen Lichtallergie leiden – gleichzeitig aber scheint das permanente Halbdunkel der Räume ein perfektes Versteck, ein Heim „der Anderen“ zu sein, die Alejandro Amenábars Horrorfilm seinen Namen geben.

Jeder geschlossene Raum ist ein Sarg: The Others, zu dem der 29-jährige Spanier Amenábar (Tesis, Abre los ojos) auch das Drehbuch und die Musik geschrieben hat, teilt das Schicksal seiner Figuren und überträgt es damit.

Er verlässt ebenfalls so gut wie nie die schützenden und zugleich einem Gefängnis ähnelnden Mauern des Anwesens, in dem sich vor unseren Augen langsam der Spuk entwickelt, unter dem Grace‘ Familie leidet. Genau hier beginnt die Schwierigkeit, vom Außergewöhnlichen dieses Films zu reden. Es wäre zu wenig, den altmodischen, klassischen Stil des Horrors zu beschreiben, der uns über seinen ruhigen Rhythmus, über Schritte und Atemgeräusche im Dunkeln von den anderen Wesen erzählt, die das Haus langsam in Besitz nehmen.

Lang könnte man von leeren Räumen im Zwielicht schreiben, von Nicole Kidmans maskenhaft zeitlosem Gesicht, vom dichten Nebel, vom Verstummen der Möwen – und hätte dennoch nichts davon gesagt, wie der Horror, „das Andere“, am Ende mit Macht zu uns selbst zurückkommt. Was sich Grace nur schemenhaft vermittelt, „es ist etwas in diesem Haus“, scheint für ihre Tochter bereits Gestalt zu gewinnen. „Sie sind überall und sagen, das sei ihr Haus!“ Gleichsam zu viel verraten aber wäre es, die Verbindungen zwischen den spürbaren Spukgestalten und jenen Verdächtigungen zu erklären, die Anne über ihre Mutter und „jenen Tag“ verbreitet, an dem diese „verrückt geworden“ sei.

Wie hatte Grace ihre neue Haushälterin zu Beginn instruiert: „Ich mag keine Fantasien. Meine Kinder haben manchmal seltsame Einfälle, bitte reagieren Sie nicht auf sie.“ Es ist fast so, als liege eine Art Fluch über diesem Film – oder über denen, die im Vorhinein von ihm erzählen wollen. Um der Kraft der Geschichte willen muss man schweigen von ihrer überraschenden Auflösung, die sich im Rückblick unauflöslich mit jeder vorangegangenen Filmminute verknüpft und sie umwertet. Darauf im Vorfeld einzugehen hieße, die Magie des Films zu zerstören. Eben dieses Schweigen aber – Ich mag keine Fantasien – bedeutet auch den Verzicht auf die Möglichkeit, die fantastischen Erfahrungen auszumalen und weiterzuspinnen, die Amenábars The Others für den Horrorfilm und für „das Andere“ überhaupt gewinnt.

Was ist jenes „Andere“, Erschreckende im Horrorfilm, und was hat es mit uns zu tun? Wenn wir „das Andere“ brauchen, um uns als sein Gegenteil selbst wiederzuerkennen und zu bestätigen, was geschieht dann, wenn wir uns dabei unversehens auf der falschen, der „anderen“ Seite wiederfinden? Was, wenn wir selbst zu Monstren des Horrorfilms werden? Tatsächlich aber steckt der Fluch dieses Films in der Kraft seiner beklemmenden Geschlossenheit: Indem The Others im besten und schlimmsten Sinne ganz so wie sein Thema ist, ähnelt er einem Gespenst, das zu Staub zerfällt, wenn es ans Tageslicht tritt.

Wer diesem (Film-)Gespenst jedoch auf seinem Terrain, im Kino, begegnet, wird es so bald nicht wieder los. Dort entfaltet The Others seine geisterhafte Erscheinung wie jene Trugbilder und Gestalten des Unheimlichen, die ihren nachhaltigen Schrecken erst entwickeln, wenn der Anfangsschock schon vorüber ist und sie „verstanden“ worden sind. Die unheilvolle Ruhe, mit der wir die Räume des heimgesuchten Anwesens durchwandern, und mit der Grace‘ diffuse Angst in eine gespenstische Gewissheit überführt wird, reißt mit dem Ende des Films nicht ab. Hier beginnt vielmehr die Geschichte in einem neuen Lichte noch einmal, und diesmal sind wir mehr denn je ein Teil davon.

Autor: Jan Distelmeyer

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Die Zeit 12/01