Gnadenloser Angriff auf den Markt

Die zweite Fantasy-Hysteriewelle des Winters rollt: Nach „Harry Potter“ kommt nun „Der Herr der Ringe“ ins Kino

Ungefähr in der Mitte von Die Gefährten, dem ersten Band von J. R. R. Tolkiens Trilogie Der Herr der Ringe, kommt es zu einem kurzen Gespräch jener Gefährten über den Zielort ihrer Mission. Sie werden nach Mordor ziehen müssen – in das Reich des „Dunklen Herrschers“ Sauron im Osten, um dort einen Zauberring von unbändiger und ihre ganze Welt bedrohender Macht am Schicksalsberg zu zerstören. Als die Hobbits, die kleinen, pelzfüßigen Helden der Erzählung, von ihrer Angst vor Mordor sprechen, werden sie von ihrem Anführer, dem menschlichen Königserben Aragorn, barsch unterbrochen. „Sprecht den Namen nicht so laut aus!“

Die Gefahr beginnt mit ihrer Benennung. Nicht unbedarft aus- und angesprochen werden darf der Hort „des Bösen“, so wie bei Harry Potter der Name des diabolischen Gegenspielers ungesagt bleiben soll: „Du-weißt-schon-wer“. So mächtig ist dieses Böse, dass allein das Reden darüber ihm Gestalt zu geben droht. „Wenn man den Teufel nennt, kommt er gerennt“, heißt das Sprichwort. Diese religiös verankerte Idee von Sprache, die Wirklichkeit konstituiert, gilt nicht nur innerhalb der Fantasy-Erzählung von Tolkien, sondern vor allem für ihre derzeitige Vermarktung. Jeder Text, jeder Kommentar, jede Kritik zum aktuellen Massenphänomen Der Herr der Ringe wird automatisch Teil der Maschinerie, die es erst zu dem macht, was es sein soll: eine allgegenwärtige Hysterie und sich selbst erfüllende Prophezeiung mit Garantie auf langlebige Umsätze der Potter-Kategorie.

Im Zentrum dieses Hypes steht der von Peter Jackson inszenierte Blockbuster Der Herr der Ringe – Die Gefährten, der erste von drei Tolkien-Filmen, die für über 180 Millionen Dollar an einem Stück in Neuseeland gedreht worden ist. Jedes Jahr zu Weihnachten wird uns ein neuer Teil vorgesetzt werden, weshalb beim diesjährigen Stapellauf des Ereignisses mit dem Arbeitstitel „ Das gewaltigste Werk der Filmgeschichte“ alles, aber auch alles klappen muss. Seit Beginn der 18-monatigen Dreharbeiten im Oktober 1999 sorgen gesteuerte Informationen für die Propaganda zunächst inner- und dann auch außerhalb der großen Tolkien-Fangemeinde. Auf über zwanzig Websites im Internet wurde Peter Jacksons Projekt Schritt für Schritt begleitet. Herumspionierende Fans wurden freundlich geduldet, weil sich die Verantwortlichen der New Line-Produktion gar keine besseren/billigeren PR-Agenten wünschen konnten.

Hierzulande breiteten regelrechte Things der Herr der Ringe-Anhängerschar den roten Erwartungsteppich aus. Und die gezielt vorausgeworfenen Schatten des Filmereignisses bescherten dem Klett-Cotta-Verlag 2001 ein Zehnfaches der letztjährigen Absatzzahlen der über 1200 Seiten starken Trilogie um Elben, Zauberer und Hobbits. Zu Monatsbeginn rangierte die Taschenbuchausgabe in der Spiegel-Bestsellerliste auf Platz 2, die dreimal so kostspielige Hardcover-Version auf Platz 14. Neben den Büchern gehören zum aufgeblähten Merchandising-Kosmos natürlich Spielzeugfiguren, Brettspiele, Puzzle, Kalender, Computerspiele und jede Menge Tolkien-Begleitliteratur um die archaische und streng hierarchisierte Fantasiewelt „Mittelerde“: Zeittafeln, Annalen der Könige, Landkarten und Enzyklopädien zu den volks- und rassekundlichen Studien, auf die Tolkien seine Erzählung gründet.

Wie rassistisch ist die Ring-Saga?

Eine Kritik an Der Herr der Ringe – Die Gefährten muss darum zuerst eine Ereigniskritik sein – eine Kritik der Konstruktion eines Phänomens und einer kulturindustriellen Strategie, die in der Politik der Verleihfirma Warner Bros. einen weiteren Höhepunkt findet: Zwei Wochen vor dem Filmstart hieß es, deutsche Kinos erwögen einen Boykott des Films, weil Warner hier mit ähnlichen „Knebelverträgen“ wie bei Harry Potter und der Stein der Weisen arbeite. Unabhängig vom Publikumszuspruch müsse zum Beispiel jede Kopie des dreistündigen Films dreimal täglich gespielt werden. Gleichzeitig aber beschränkt sich das Phänomen um die Ring-Saga nicht auf die umfassende und gnadenlose Konstruktion am Markt. Ebenso wichtig ist der kulturelle Boden, auf den sie fällt und auf dem sie, so scheint es bislang, gut gedeiht.

Der Herr der Ringe erzählt wesentlich komplexer und ausschweifender als die Harry Potter-Kinderbücher von einer Erweckungsgeschichte; davon wie der kindliche Hobbit Frodo Beutlin vom Schicksal auserwählt wird, ganz Mittelerde vor der Eroberung durch den „Dunklen Herrscher“ zu retten. Dabei stehen ihm unter anderem ein guter Zauberer (Gandalf) zur Seite, edle Elben, blaublütige und tapfere Menschen, ein kampflustiger Zwerg und ein paar weitere Hobbits, die sich wie er selbst eher nach einem spießigen Zuhause mit Kaminfeuer und Pfeifentabak im heimischen „Auenland“ sehnen. Zu den teuflischen Mächten gehören ein böser Zauberer (Saruman), Ringgeister, zur dunklen Seite der Macht konvertierte, dunkelhäutige Menschen und allen voran Unmassen finsterer, koboldartiger Orks. Die Unterschiede und Hierarchien zwischen den einzelnen „Rassen“, von denen Tolkien schreibt, sind klar geordnet. Chroniken, Karten, Stammbäume und komplett erdachte Sprachen runden eine Welt ab, die vielfältiger und zugleich kohärenter kaum sein könnte.

Der implizite Rassismus und die sexistische Reduktion weiblicher Figuren auf Ornamente ist seit dem Welterfolg des Buches in den sechziger Jahren viel diskutiert worden. Auch Peter Jackson hat sich Fragen zu den Rassismus-Vorwürfen gefallen lassen müssen und dieselben als „unangebrachten“ Diskurs abgewiesen. Um die Frauenfiguren im Film zu stärken (und die Zielgruppe zu erweitern), hat er die Kleinstrolle der Elbenprinzessin Arwen aufgemöbelt und mit Liv Tyler besetzt. Nicht zuletzt die strenge Ordnung zwischen den Geschlechtern und „Rassen“ aber macht die Geschlossenheit von Tolkiens Parallelweltgeschichte aus, die seit ihrem Erscheinen 1954 über 50 Millionen Leser gefunden hat. Orientierung und Sicherheit wird bei allen Handlungsverzweigungen auch dadurch geleistet, dass die äußerlichen Merkmale der „Rassen“ an Wesenszüge und Charaktereigenschaften gekoppelt sind – für den Philosophen Etienne Balibar besteht darin die Grundlage des „neuen Rassismus“.

Warum nun diese Quasi-Religion aus Mittelerde (wie auch die Hogwarts-Zauberwelt) derzeit so viele Anhänger findet, könnte mit einem Begriff beantwortet werden, der seit ein paar Jahren wegen vormaliger Abnutzung aus der Mode gekommen ist. Wenn es aber jemals Sinn gemacht hat, über die Auswirkungen „der Postmoderne“ zu sprechen, dann heute. Eine Geschichte der (Des)Orientierung: Die postmoderne Fragmentierung und nachhaltige Verunsicherung des (körperlichen) Subjekts ist seit dem Ende des Kalten Krieges und seinem Block-Denken stetig vorangeschritten. Und mit ihr die Kompensation durch eine Körperhysterie qua Wellness, Fitness, Silikon oder Men’s Health. Gesteigert wurde die Destabilisierung des Subjekts dabei nicht nur durch das „große, globale, multinationale und dezentrierte Kommunikationsgeflecht“ (Fredric Jameson) und durch den flexiblen Kapitalismus mit seinen kurzfristigen Arbeitsverhältnissen und Flexibilisierungsansprüchen. Seinen Teil dazu beigetragen hat ebenso der bis Mitte der Neunziger so präsente, öffentliche Diskurs über den Zerfall ehemals fester Orientierungs- und Identitätsgrößen in der viel zitierten Postmoderne. Wenn man so will, dann wirken die Anschläge vom 11. September wie ein vorläufiger Höhepunkt einer Spirale politischer und kultureller Verunsicherung in den Ländern der so genannten „westlich-zivilisierten“ Welt.

Ein Kleinbürger rettet die Welt

Immer schon hatte sich J. R. R. Tolkiens Ring-Trilogie als eine erträumte Antwort auf Unsicherheiten persönlichen (z. B. während der Pubertät) und gesellschaftlichen Ursprungs (z. B. während des Vietnamkriegs) angeboten. Heute scheint sie wieder an Attraktivität zu gewinnen. Der Fluchtpunkt heißt Ordnung – die Hoffnung auf Vorsehung und einen großen Plan, der die Individuen und „Rassen“ an ihren Platz stellt, gehören ebenso dazu wie die Möglichkeit, innerhalb dieses so festen Gefüges Raum für Abenteuer und persönliche (das heißt männliche) Weiterentwicklung zu finden. Frodo Beutlin bewegt sich zwischen dem kleinbürgerlichen Glück des Schrebergartenheims mit dem „Gute alte Zeit“-Appeal und einem Selbsterfahrungsaufbruch ins Ungewisse, aus dem der Weg am Ende freilich wieder in den heimeligen Schaukelstuhl führen soll. In dieser Bewegung liegt das Potenzial der Geschichte, zum engstirnig-weitläufigen Gegenentwurf all jener Empfindungen zu werden, die wir mit Postmoderne assoziieren.

Es ist darum kein Zufall, dass in Peter Jacksons Film (wie schon in Harry Potter) auch nicht das kleinste Maß jener Selbstironie zu finden ist, die zuletzt in so vielen Blockbustern zum Standard gehörte und auch frühere Jackson-Filme wie Braindead und The Frighteners geprägt hat. Dieses Schlupfloch darf sich nicht auftun, wo ordentliche Geschlossenheit den Sinn ausmacht. Jacksons Herr der Ringe ist sich der Attraktivität des Stoffs bewusst, und darum fällt der zentrale Satz zum Spannungsverhältnis zwischen Schicksalsgläubigkeit und individueller Freiheit sowohl am Anfang als auch am Ende des Films. Es liege nicht in seiner Macht, seine auserwählte Rolle zu wollen oder nicht, erklärt der Zauberer Gandalf (Ian McKellen) dem Ringträger Frodo (Elijah Wood) – „du kannst nur entscheiden, wie du die Zeit nutzen wirst, die dir gegeben ist“.

In diesem Sinne unternimmt Jacksons Film eine werkgetreue Umsetzung. Er lässt sich Zeit für den Aufbau der Welt von Mittelerde und seiner Protagonisten wie Aragorn (Viggo Mortensen), Boromir (Sean Bean) und Saruman (Christopher Lee). Erst nach knapp neunzig Minuten wird die Frequenz von Actionszenen und Ork-Schlachten erhöht, die wie der Rest des Films komplett in sich stimmig sind. Zusammen ergibt das ein durchaus liebevolles, leicht gestrafftes Abbild des ersten Tolkien-Bandes, das zugleich eine fast zwangsläufige Schwäche offenbart, die aus der Erzählzeit entsteht. Die Handlungsleerläufe im Buch, die zur Vertiefung der Weltordnung dienen und damit entweder langweilen, ärgern oder eben den Suchtfaktor entwickeln, können im Film keinen Platz finden. Damit aber fehlt ein wesentlicher Wirkstoff der Ring-Saga und ermöglicht so trotz aller perfekten Tricks und Effekte den Blick auf die Konstruiertheit der ganzen Geschichte. Ob dies dem planmäßigen Erfolg des Films Schaden zufügen kann, ist schwer zu sagen. In jedem Fall aber verliert die Geschichte auf dem Weg vom Buch zum Film etwas von ihrer fragwürdigen Kraft. Oder anders: Hinter der mächtigen Konstruktion des Ereignisses muss der Film zurückstehen. Vielleicht schafft diese Kluft eine Möglichkeit, vom aktuellen Phänomen Der Herr der Ringe zu reden, ohne es dabei immer schon mitzuproduzieren.

Autor: Jan Distelmeyer

Zuerst erschienen in: Die Zeit 51/2001