Ein Film sieht rot

Eine Komödie zu verteidigen ist immer eine seltsame Angelegenheit. Über Humor lässt sich eine Ewigkeit streiten, ohne dass irgendwer seinen subjektiven Argumentationswinkel verlassen müsste. Derartige Diskussionen haben darum nicht selten etwas von einem Besserwisser-Karussell (Ist nicht witzig! – Ist doch witzig!), dessen einzige Bewegung einen immer gleichen Kreis beschreibt. Eigentlich eine passende Form – immerhin gehören Wiederholungen und Running Gags zum klassischen Komödieninventar.

Die amerikanische Kritik hat es nicht gut gemeint mit Stadt, Land, Kuss, der zweiten US-Produktion des englischen Regisseurs und Autors Peter Chelsom (Funny Bones). Genauer gesagt: Der Film wurde hingerichtet. Die „fehlende Kontrolle des Regisseurs“ wurde beklagt, es hieß, die Geschichte werde „in ihrem Verlauf immer bizarrer“, und der Film selbst erscheine „wie vom Fleck improvisiert, schnell gefilmt und binnen weniger Stunden ins Kopierwerk geschickt“. Diese Kritikpunkte könnten natürlich ebenso gut als Qualitätsmerkmale einer ausgerissenen Screwball-Comedy gelten. Das Komödiendiskurs-Karussell dreht sich also weiter.

Wie bei den meisten Screwball Comedys, von It Happened One Night (1934) über Bluebeard’s Eighth Wife (1939) und His Girl Friday (1940) bis zu Philadelphia Story (1940), dreht sich auch in Stadt, Land, Kuss alles um Liebe und Sex. Der Screwball, einer frühen Bedeutung folgend ein „komischer Heiliger“, ist in diesem Falle ein reicher Architekt, der Porter Stoddard heißt und von Warren Beatty gespielt wird. Gleich im ersten Bild des Films starrt er uns an, nackt im Bett sitzend, und versichert uns, das werde nie wieder vorkommen; währenddessen spielt Nastassja Kinski Cello, ebenfalls nackt. Das ist insofern heikel, weil Porter seit 25 Jahren glücklich mit der Innenarchitektin Ellie (Diane Keaton) verheiratet ist, weil beide feudal und zufrieden mit ihren Kindern in New York residieren und weil Ellie nichts von der Cellistin Alex ahnt.

Kaum haben wir einigermaßen den Überblick über die Familien- und Angestelltenverhältnisse im Hause Stoddard gewonnen, wird die Lage von den besten und ältesten Freunden der Familie in eine stetig anschwellende Katastrophe überführt. Mona (Goldie Hawn) entdeckt, dass Ehegatte Griffin (Garry Shandling) sie betrügt. Sie reicht die Scheidung ein, noch bevor Griffin sich zur neu entdeckten Homosexualität bekennen kann. Porter muss Mona trösten und sie bei der Instandsetzung ihres alten Familiengrundstücks in Mississippi beraten. Es kommt, wie es (in diesem Genre) kommen muss: immer schlimmer. Porter und Mona schlafen miteinander, Ellie kommt hinter Porters Affäre mit der Cellistin Alex, auch Mona ist empört, Alex gesteht Porter ihre Schwangerschaft, und der flieht mit Griffin in die rettende Einsamkeit von Sun Valley – in jene Gegend, in der schon Hemingway Ruhe zum Schreiben und zum Selbstmord fand.

Das ist der Wendepunkt: Hätte Stadt, Land, Kuss von nun an nur noch ein paar nette Gags abgefahren, um dann zügig zur Deeskalation und zum romantischen Happy End zu schreiten, wäre die Kritik wohl kaum derart harsch ausgefallen. Bis dahin ist das Durcheinander einigermaßen im Rahmen – Warren Beatty ironisiert seine eigene Vergangenheit als Sexsymbol, und was Dialoge, Ensembleleistung und Situationskomik anbetrifft, bewegt sich Stadt, Land, Kuss irgendwo zwischen den Vorläufern aus den Dreißigern und Woody Allen. Nett, aber unauffällig, könnte eine Zwischenbilanz lauten.

Und dann wird es dem Film einfach zu viel beziehungsweise zu wenig. Stadt, Land, Kuss dreht durch, läuft gewissermaßen Amok, indem er die Regeln des „Funktionierens“ einfach zugunsten absurder Gags opfert. Dazu gehört ein Sturz aus dem Skihüttendachboden, ein Maskenball mit Elvis, Marilyn und einem Eisbären (Beatty) sowie ein komplett unsinniger Handlungsstrang, in dem Beatty es mit der bekloppten Familie von Andie MacDowell zu tun bekommt. Ihr Vater, Charlton Heston, murmelt markig unzusammenhängende Hemingway-Zitate, während sich ihre Mutter aus dem Rollstuhl über ihren sexuell inaktiven Mann ereifert und ihm vorschlägt, die Drinks doch mit seinem „big swinging dick“ umzurühren.

Wenn sich am Ende alle Beteiligten in New York zum völlig übertriebenen Showdown einfinden, ist Stadt, Land, Kuss längst aller Logikbande ledig. Eine Befreiung auf der ganzen Linie: Leute um die sechzig spielen sich aus und feiern die Screwball-Comedy, indem sie deren Grenzen bis zum Äußersten dehnen. All jenen, die der Geschichte Bizarrerie und „fehlende Kontrolle“ vorwerfen, sei die Schlussszene aus der Philadelphia Story empfohlen. Dort protestiert Ruth Hussey: „Ach bitte, werdet doch jetzt nicht so konventionell – wer soll denn das aushalten?!“

Autor: Jan Distelmeyer

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: Die Zeit 06/ 01