Für alle Freunde und Verfechter des Zeitgeists muß dieser Film eigentlich bereits vor dem ersten Bild über das Ziel hinausschießen. Das Siebziger-Jahre-Revival hat seinen Höhepunkt längst überschritten, da nimmt sich Todd Haynes‘ Velvet Goldmine der Ära des Glam Rock an. Die erste Einstellung zeigt Sterne – Stars werden anschließend den ganzen Film durchziehen – und einen langsamen Kameraschwenk vom Nachthimmel in die malerischen Kulissen einer Stadt, die als das Dublin von 1854 ausgewiesen wird. Die siebziger Jahre unseres Jahrhunderts können warten. Hier geht es erstmal um Oscar Wilde, vor dessen Geburtshaus die Kamera inzwischen angelangt ist. Zehn Jahre vergehen in einem Schnitt. Kinder erklären ihre Berufswünsche und bald ist auch der kleine Oscar Wilde an der Reihe: „Ich möchte ein Pop-Idol werden.“

Mindestens zweierlei hat Velvet Goldmine damit klargestellt: Wo (die) Geschichte beginnt, bestimmt allein der, der sie erzählt. Und wer bei der anstehenden Beschwörung der siebziger Jahre auf so etwas wie Authentizität hofft, darf sich jetzt schon von diesem Bedürfnis nach Sicherheit und festen Größen verabschieden.

Der nächste Zeitsprung landet 100 Jahre später bei dem Jungen Jack Fairy. der sich mit dem eigenen Blut die Lippen schminkt und damit einen weiteren Sprung in die Titelsequenz einleitet: Hippies in Mänteln und Felljacken, Schlaghosen und wallenden Haaren rennen zu auffällig passender Musik durch Manchester. Musik, Montage und Darsteller ähneln dabei so sehr dem Gebrauchsbild „Die 70er“, daß diese Sequenz auch problemlos als Auftakt eines verschollenen Teils von Ernst Hofbauers Schulmädchen-Report-Serie durchgehen könnte. Dann erst entwickelt sich, was im üblichen Sinn als Plot des Films erzählbar wird.

1984 wird der New Yorker Journalist Arthur (Christian Bale), aufgewachsen in Manchester,von seinem Chefredakteur beauftragt, eine Story über die Glam-Rock-lkone Brian Slade zu verfassen, der genau vor zehn Jahren sein eigenes Ableben während eines Konzerts auf der Bühne inszeniert hatte und seitdem verschwunden ist.

Für Arthur ist die Recherche jedoch weniger ein Job als eher die Rückkehr zu sich selbst – Anfang der siebziger Jahre war er selbst glühender Verehrer von Brian Slade und dem kongenialen Curt Wilde gewesen. Indem Arthur die alten Weggefährten Slades aufsucht, arbeitet er zugleich seine eigene Geschichte auf, die schließlich auch das Geheimnis von Brian Slade entschlüsseln wird.

Der Gang der Ereignisse ist – wie schon der Auftakt – mehr ein Springen als eine sukzessive Bewegung. Assoziativ einsetzende Rückblenden auf Brian Slade (Jonathan Rhys Meyers), seinen Konkurrenten und späteren Freund Curt Wilde (Ewan McGregor) sowie auf deren Bedeutung für Arthurs erste sexuelle Erfahrungen gehen mit überraschenden Perspektivenwechseln einher. In die subjektiven Erzählungen von Slades Frau Mandy (Toni Colette) oder seinem Entdecker Cecii (Michael Feast) fließen surreale Elemente ein, Überschneidungen von ihrer und Arthurs eigener Geschichte. Aus unterschiedlichen Gesichtspunkten und Wahrnehmungen, deren Grenzen ebenso verschwimmen wie jene geschlechtlicher Identitäten, entsteht ein immer schon schiefes oder geträumtes (Klang-)Bild dieser Zeit und ihrer Popstars. Die Parallelen zu Orson Welles‘ Citizen Kane sind von Anfang an unübersehbar: nur daß Velvet Goldmine – vor allem zum Ende hin – immer wieder die Struktur rekonstruierter Videoclips probiert und ausweitet. Ganz zu schweigen von der exponierten Verbindung von Homosexualität, Pop und Glam, die als Erinnerung und Hoffnung alle Teile der Geschichte von Velvet Goldmine verbindet.

So sehr Brian Slade David Bowie ähnelt und Curt Wilde sich wie Iggy Pop gibt, so deutlich sind die für den Film komponierten Songs an den jeweiligen Stücken von Bowie, Pop, Roxy Music und anderen Bands der Epoche orientiert. Der Film quillt über vor musikalischem und filmischem Ausdruck, vor Zitaten und (film-)ästhetischen Versuchen. All das „paßt“ nicht wirklich zusammen, und Velvet Goldmine fällt desto sichtbarer auseinander, je näher Arthur an die neue Identität seines ehemaligen Helden herankommt. Selbst das Ende, mit dem die Geschichte und Arthurs Auftrag ihre Auflösung erfahren, kann Velvet Goldmine nicht zu einer Einheit bringen. Aber worum eigentlich ging es bei dieser Einheit, worin bestünde sie?

Genau davon, von den Bedingungen vergleichsweise „runder“ Kino-Erzählungen, läßt sich anhand dieser Widerständigkeit sprechen, die Todd Haynes‘ Film vielleicht mißlungen erscheinen lassen mag. Zwangsläufig stünden dabei unsere Publikums-Erwartungen und -Voraussetzungen ebenfalls zur Debatte, An Velvet Goldmine – gerade in seinen Unterschieden zum jüngst gefeierten Epos Boogie Nights wäre so einmal mehr zu entdecken, wie stark unser Indikator für Glaubwürdigkeit in- und außerhalb des Kinos von der Frage abhängig ist, wie schlüssig Geschichte erzählt werden kann.

Autor:Jan Distelmeyer

Dieser Text ist zuerst erschienen in: epd film 12/98