Schlag dir Europa aus dem Kopf

Die Grenze filmen: Während sich Steven Soderberghs „Traffic“ relativ frei zwischen den USA und Mexiko bewegte, ist die Grenze zwischen Marokko und Europa in André Téchinés „Weit weg“ abgeriegelt. Dreiecksgeschichten erzählen beide Filme

In Steven Soderberghs Traffic gibt es einen besonderen Moment von Verdichtung, wenn die bewegliche Videokamera einen starren Punkt fixiert. Der Blick ruht auf einem Grenzstein an der mexikanisch-amerikanischen Grenze. Nicht der Zufall, sondern die durchdacht gewählte Perspektive will es, dass aus dem Sonnenlicht, aus Farbrückständen und dem metallischen Blau des Untergrunds drei Farben nebeneinander treten. Gelb, Weiß und Blau kommen auf einem Fleck zusammen, eben jene Farbtöne, die den drei Handlungssträngen und Hauptfiguren ihre Identität geben: Die Bilder Mexikos und Benicio Del Toros als korrumpierter Drogenfahnder sind – Assoziationsfeld Wüste – gelblich gefärbt. Technisiert blau ist der Osten der USA, metallen schwer das Licht in den Szenen um den von Michael Douglas gespielten Richter. Die (Gegen-)Lichtverhältnisse in Kalifornien wiederum sind derart gleißend, dass die Geschichte um Catherine Zeta-Jones als Gangstergattin von einem harten Weiß dominiert wird.

Drogen, Geld, Menschen

Traffic, als „komplex, unkommerziell, realistisch“ und „50-Millionen-Dollar-Handkamera-Dogma-Film“ gefeiert, erzählte eine Dreiecksgeschichte, in deren Zentrum von Anfang an eine Landesgrenze ruht. Immer wieder werden wir sie im Gefolge von Drogenhändlern und -fahndern in beide Richtungen überschreiten. So handelte der erfolgreichste Grenzfilm der letzten Jahre von einer Demarkation, deren auffälligstes Merkmal ihre Durchlässigkeit ist. Drogen, Geld und Menschen passieren sie wie Soderberghs Handkamera nahezu frei; auch darum können auf dem Grenzpunkt alle drei Farben des Dreiecks zusammenkommen.

Was Soderberghs Traffic mit André Téchinés Weit weg verbindet, ist zunächst mehr als nur die mobile Digitalkamera, mit der sich Téchiné vom großzügigen Cinemascope-Format seiner früheren Filme verabschiedet. Auch Weit weg beschreibt mit seinen drei Hauptfiguren ein Dreieck, und auch dieses umschließt in seinem Mittelpunkt eine Grenze. Wir überqueren sie zu Anfang mit Serge (Stéphane Rideau), einem französischen Lastwagenfahrer, der Stoffe zwischen Frankreich und Marokko transportiert. Die Stadt Tanger ist für ihn zu einem Lebensmittelpunkt geworden, seit er sich in die jüdische Marokkanerin Sarah (Lubna Azabal) verliebt hat und mit ihr eine Fernbeziehung führt. Nach dem Tode ihrer Mutter führt Sarah deren kleine Familienpension weiter, die Lebensgrundlage für Said (Mohamed Hamaidi), der als Freund des Paares und „Best Boy“ der Pension auf seine Chance wartet, nach Europa auszuwandern.

Weit weg verfolgt drei Tage im Leben dieser drei und beschreibt damit zugleich drei Verhältnisse zur Landesgrenze. Serge ist dabei nicht nur der professionelle Pendler zwischen den Welten. Die Grenze nach Spanien bekommt für ihn zusätzliche Bedeutung, als er auf das Angebot eingeht, Haschisch aus Marokko hinauszuschmuggeln. Sarah überlegt indes, ihrem Bruder nach Kanada zu folgen; allein die ungeklärte Beziehung zu Serge, ein Wechsel zwischen leidenschaftlichem Aufeinanderzurennen und unwirklich abgeklärtem Abschiednehmen, scheint sie zurückzuhalten. „Du wirst weggehen wie die anderen Juden auch“, vermutet Said, dem mit der Schließung der Pension der letzte Halt in Tanger wegbräche.

Alles ist in Bewegung. Keine der drei Figuren stützt sich auf Stabilität, am wenigsten Said, der sich als Sohn mittelloser Landarbeiter zwischen Gefängnis, Gelegenheitsjobs und Fluchthoffnung durchschlägt. Fünf- oder sechsmal hat er es schon „nach Europa versucht“, und in Tanger ist es ein Fahrrad, sein einziger Besitz, mit dem er in Bewegung bleibt. Wie ein Pendel zwischen Serge und Sarah bringt er am Tag von Serges Ankunft die zerstrittenen Geliebten wieder zusammen. Ein stilles Abkommen auf dem Weg zu Saids nächstem Fluchtversuch: „Du hilfst mir“, sagt Serge, „dann bringe ich dich nach Europa.“

Von Bewegung träumen

„Rein wirtschaftliche Gründe“ haben ihn dazu veranlasst, erzählt André Téchiné, seinen neuen Film nach Diebe der Nacht und Alice und Martin mit einer Digitalkamera zu drehen. Gleichwohl aber erweist sich eben diese Notlösung als beste aller möglichen, um dem permanenten Fluss der Bewegung zu folgen, der nicht nur – wie so oft bei Téchiné – die drei Hauptfiguren miteinander verbindet. Tanger selbst ist hier immer schon ein Ort zwischen Neukonstitution und Auflösung, die Liebe zwischen Serge und Sarah hat Teil daran. Migranten aus Schwarzafrika, zum Beispiel die Nigerianer in Sarahs Pension, suchen ihren Platz, während der Amerikaner James (Jack Taylor), ein Dauertourist in der Nachfolge Paul Bowles, vom Sterben der Kulturen spricht. Er selbst würde als junger Marokkaner „auch alles tun, um hier wegzukommen“. Der gut bewachte Eingang nach Europa vor Augen bringt eine weitere, erträumte Mobilität ins Spiel.

Ganz im Gegensatz zu Traffic erzählt die freie Videokamera in Weit weg somit von einer Bewegung, die sowohl mit der Grenze entsteht als auch vor ihr Halt macht. Während der Weg von Traffic programmatisch immer wieder über die Grenzlinie führt, handelt Téchinés Film von ihrer Geschlossenheit. Nur Serge ist es gestattet, nach Belieben zwischen Europa und Afrika zu pendeln, und nicht zufällig erzählt Weit weg von jenen drei Tagen, die er zwischen der Ein- und Ausreise in Tanger verbringt. Eine andere Grenze, ein anderes Dreieck: Lagen in Traffic zwei Teile der Dreiecksgeschichte und damit der Schwerpunkt des Films im Inland USA, liegt der Schwerpunkt dieses französischen Grenzfilms auf marokkanischer Seite und damit gleichzeitig in der Schwierigkeit, von hier aus in die Festung Europa zu gelangen. „Schlag dir Europa aus dem Kopf“, redet Serge Said ins Gewissen, „du weißt doch, was die mit den Illegalen machen!“

Was wissen wir von „den Illegalen“? Wie nebenbei wird in einer frühen Szene von Problemen anderer Fahrer mit „blinden Passagieren“ gesprochen; ein anderes Mal blicken wir mit Serge unter das Fahrgestell seines Lastwagens und hören von drei Flüchtlingen, die sich dort versteckt hatten. „Sie mussten sie herauskratzen, es war eine Schweinearbeit!“ Diese Perspektive wird bleiben. Von Anfang an ist darum die Grenze in Weit weg auch eine Gefahr und zwar – im Gegensatz zur „Boot ist voll“-Hysterie – in erster Linie für die, die sie in Richtung Europa überqueren wollen. Auch der Drogenschmuggel, der Traffic in Téchinés Version, wird in dieser Konsequenz zur Bedrohung für Serge. Zu spät versucht er, aus dem Geschäft auszusteigen.

Seine Zwangslage zwischen Drogendealern und Zollbeamten ist der letzte Schritt, durch den das Dreieck Serge/Sarah/Said zu einer komplexen Gemeinschaft zusammenwächst. Darin verkörpert jede und jeder ein gespaltenes Verhältnis zur Grenze. Für alle ist sie Chance und Risiko zugleich, am offensichtlichsten für Said, der sein Leben „für Europa“ aufs Spiel setzen will. Auch deshalb ist so etwas wie die farbliche Dreiteilung, mit der Soderberghs Traffic die Grenze gegen alle Durchlässigkeit doch verstärkte und permanent sichtbar nachzog, bei Téchiné undenkbar. Der Umgang mit der Grenze, die Möglichkeiten, sie zu passieren oder nicht, sind hier die eigentlichen Unterschiede, und Germain Desmoulins Kamera ist es, die zwischen diesen Unterschieden vermittelt und sie für Momente überwindet. Sie stellt Nähe her zu den Bewohnerinnen und Besuchern dieser Stadt, verfolgt mit Said den Dieb seines Fahrrades, teilt mit Serge und Sarah das Bett und nimmt Platz beim Picknick am Stadtrand, als James am dritten und letzten Tag alle zusammenbringt. Dazu gehören zu diesem Zeitpunkt längst mehr Schicksale als die von Serge, Sarah und Said; ihr Dreieck hat sich in den dreidimensionalen Raum erweitert.

Eine eigene Freiheit

Das Prinzip von André Téchinés Film besteht so in der Umkehrung seines Titels: im Verbleiben an einem Ort und im Erkunden der Geschichten dort. Sie alle haben auf eine Weise mit dem Wunsch oder der Angst zu tun, „weit weg“zukommen. Neue Räume werden geöffnet, von der Kamera gesucht und in der Filmmusik gespiegelt. Ganz so, wie auch die Idee des ganzen Projekts sich aus einem ehemaligen Vorhaben (weiter-)entwickelt hat. Ursprünglich wollte Téchiné den Tanger-Roman „Le Citron“ von Mohammed Mrabet verfilmen. „Als ich aber das heutige Tanger kennen lernte, stellte ich fest, dass es absolut notwendig wäre, diesen Stoff an die Gegenwart anzupassen. Darüber hinaus fand ich es absurd, dass sämtliche Marokkaner im Roman Französisch sprechen. So kristallisierte sich allmählich eine andere Geschichte heraus.“

Enden wird sie vor der Fahrt zurück nach Europa und mit der Frage, ob Serge sein Versprechen gegenüber Said halten wird. Ein Kreis schließt sich und bleibt genau deshalb offen. In dieser Bewegung der Aufmerksamkeit, mit der Weit weg die Geschichten von Tanger durchstreift, um als Konsequenz daraus neu an der Grenze anzukommen, zeigt sich mehr als nur ein kluges Konzept. Vielleicht liegt gerade darin die eigentliche Schönheit dieses Films: eine eigene Freiheit, die im vollen Bewusstsein existenter Machtverhältnisse Verbindungen findet und stiftet.

Autor: Jan Distelmeyer

Dieser Text ist zuerst erschienen in der: tageszeitung 08/ 02