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Venedig stand Kopf. Beim letzten Filmfestival in der Lagunenstadt verliebte sich jede und jeder in Judy Dench, die der Hauptfigur von Stephen Frears’ auf Tatsachen basierendem Film so eindrucksvoll und emotionsreich Gestalt verleiht.

Die Story hat es in sich: Philomena (in dem um 2003 spielenden Hauptstrang der Erzählung von Judy Dench verkörpert) lebt in den 1950er Jahren als Jugendliche bei Nonnen. Barmherzig sind die nicht. Sie beuten ihre Schützlinge nach Strich und Faden aus. Als die junge Frau schwanger wird, zielen es die „Dienerinnen Gottes“ allein auf Strafe ab. Die Geburt des Sohnes bringt Philomena aus medizinischen Gründen in Lebensgefahr. Haltung der Nonnen: „Der Herr wird es schon richten.“ Kein Wunder, dass sich auf dem Friedhof des Heimes viele Gräber von 14-, 16- und 17-Jährigen befinden. Doch Philomena überlebt, auch den enormen Schmerz, als ihr Sohn zur Adoption frei gegeben und nach Amerika verkauft wird. Fünf Jahrzehnte später kann sie erst darüber sprechen. Ist das vollbracht, wächst ihr Mut, und sie versucht mit Hilfe eines Journalisten (großartig philo_320differenziert und trocken komisch: Steve Coogan), ihren Sohn zu finden. Das ist natürlich alles andere als einfach – und führt auch keineswegs zu einem rosaroten Happy End.

Judy Dench vollbringt eine wahrlich brillante Leistung. Sie gibt der alten Dame, deren Bildungsniveau sich auf der Ebene von billigen Drei-Groschen-Romanen befindet, eine Würde und, vor allem, Herzensbildung, dass sich jeder im Kino sofort in die Figur verliebt, mit ihr hofft, zögert, bangt, kämpft. Das Geschehen ist meist todtraurig, doch nie sentimental, auch und gerade deshalb, weil Dench und ihre durchweg exzellenten Partner, das von wunderbaren Dialogen geprägte Drehbuch und die feingeistige Inszenierung alle drohenden Klippen von Sentimentalität wahrlich gekonnt umschiffen. Das vor einigen Jahren erschienene Buch, auf dem der Film basiert, hat in Großbritannien Tausende Frauen, denen das Gleiche geschah wie Philomena Lee, zum Reden und Handeln gebracht und eine breite öffentliche Diskussion über die verhängnisvolle Rolle bigotter Kirchenfrauen und -männer initiiert, ohne Hysterie. Denn hier wird außerordentlich klug darüber nachgedacht, wie Glaube, der an sich etwas Gutes sein kann, durch institutionalisierten Fundamentalismus missbraucht und zum Schaden von Menschen eingesetzt werden kann. Verurteilt wird der Glaube nicht. Eine Balanceakt an Feingefühl und Klugheit, der im Kino viel zu selten zu erleben ist.

Ganz nebenbei: der Film taugt bestens zum Test der Größe der Begleiterin bzw. des Begleiters beim Kinobesuch: Wer hier unentwegt in Tränen versinkt, ist einfach nur eine schlaffe Heulsuse und hat kein Gespür für die feingeistigen Zwischentöne, mit denen hier erzählt, und mit denen aller Tränendrüsendrückerei entgegengewirkt wird. Leute mit Grips lachen von Szene zu Szene bitterer und sind am Ende nicht rührselig, sondern stinkwütend –  auf eine Gesellschaft, in der Bigotterie und Verlogenheit mehr und mehr an Oberhand gewinnen, in der Rührseligkeit allzu oft Mitgefühl verdrängt.

Peter Claus

Philomena, von Stephen Frears (Großbritannien 2013)

Bilder: SquareOne/Universum