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Heutzutage sind die Erwartungen, wenn es ums Kino aus Indien geht, sehr eng. Stichwort: Bollywood. Beim großen Publikum ist in Vergessenheit geraten, dass aus der weltgrößten Film-Produktion schon seit Jahrzehnten immer wieder auch exzellente Beispiele kraftvollen Autorenkinos kommen!

Regisseur Anup Singh tritt mit seinem erst zweiten Spielfilm in die Fußstapfen berühmter Vorgänger, etwa Satyajit Ray und Mrinal Sen. Im Zentrum seiner Geschichte, die von Erzählungen aus seiner Familie angeregt wurde, steht das Schicksal eines Mädchens, das gezwungen wird, als Junge aufzuwachsen und im Erwachsenenalter als Mann zu leben. Diese Geschichte wird zum Spiegelbild des Geburtstraumas des modernen indischen Staates. Und wird vor allem zu einer Auseinandersetzung mit der in Indien drängenden Frage zur Gleichberechtigung bzw. eben zur Ungleichberechtigung von Frauen und Männern.

Der Film beginnt 1947: religiöse und ethnische Konflikte führen zum Zusammenbruch von Britisch-Indien. Die Folge: es werden zwei Staaten gegründet – Indien und Pakistan. Für viele Menschen bedeutete das eine Katastrophe. Hier setzt die Geschichte ein: der Sikh Umber Singh (Irrfan Khan) muss durch die politische Entwicklung qissa_320seine bisherige Heimat verlassen. Doch es gelingt ihm, sich in der Fremde eine neue Existenz voller Wohlstand aufzubauen. Was ihm nicht gelingt, ist die Natur zu zwingen, ihm einen männlichen Nachkommen zu schenken. Doch selbst das versucht er: als die vierte Tochter geboren wird, erklärt er sie kurzerhand zu einem Sohn und nennt sie Kanwar, junger Prinz. Stur erzieht er seine Tochter zu einem Mann. Es muss zu einer Katastrophe kommen. Muss es wirklich? Der Glaube kann bekanntlich Berge versetzen. Und so kommt es zu sehr überraschenden Entwicklungen.

Es sind allem anderen voran die uralten patriarchalischen Muster, mit denen sich der Film auseinandersetzt. Dabei nimmt der Autor und Regisseur die Menschen selbst in naiven Lebenshaltungen ernst, zeigt auch, wie sehr der Glaube an Geister Handeln und Denken bestimmt. Gerade dadurch wir die individuelle Story der Selbstfindung eines Menschen zur Reflexion der längst nicht abgeschlossenen Selbstfindung der indischen Nation. Der Fokus gilt dabei besonders der Stellung der Frauen. Noch immer gelten sie in Indien – von wenigen hoch gebildeten vermögenden Gruppen abgesehen – als minderwertig und zweitrangig. Berichte von grausamen Gewalttaten und Vergewaltigungen erschüttern immer wieder. Der Film, der nie doziert, macht klar, welche Ursachen es dafür – neben anderen – gibt.

Zur Wirkung trägt wesentlich die visuelle Gestaltung bei. Der deutsche Kameramann Sebastian Edschmid fesselt mit einer schlichten Bildgestaltung. Düstere Stimmungen dominieren. Viele Szenen spielen nachts. Da ist es oftmals auf den ersten Blick gar nicht möglich, Männern und Frauen zu unterscheiden. So wird die Grundaussage des Film auch optisch subtil unterstützt: Frauen und Männer sind als Menschen, bei allen Unterschieden, doch in einem eins: in ihrer Würde. Der Film zeigt kraftvoll, wie oft in dieser Welt die Würde des Menschen gefährdet ist, nicht allein in Indien!

Peter Claus

Qissa – Der Geist ist ein einsamer Wanderer“, von Anup Singh (Deutschland/ Indien/ Niederlande/ Frankreich 2013)

Bilder: Camino