Ein Film zum Schwärmen. Dem in Berlin lebenden österreichischen Autor und Regisseur Jakob M. Erwa ist ein großer Wurf gelungen. Als Vorlage diente ihm der gleichnamige Roman des Schriftstellers Andreas Steinhöfel. Der ist Kinogängern durch die Adaption seines Buches „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ und die zwei Nachfolgefilme bekannt. Da werden gar nicht schwer anmutende Geschichten mit Gespür für Gewichtiges erzählt. Das ist in diesem Fall auch so. 1998 ist der Roman erschienen und gilt seitdem als einer der erfolgreichsten im deutschsprachigen Raum. Und nicht nur da. Einige Übersetzungen haben das Buch auch international bekannt gemacht.

Wenn man die Handlung knapp zusammenfasst, klingt sie nach durchschnittlicher Coming-of-Age-Story. Da haben wir den 17-jährigen Phil (Louis Hofmann) als Erzähler. Er kommt aus einem Sommercamp nach Hause zurück. Daheim herrscht miese Stimmung. Die Mutter (Sabine Timoteo) liegt offenbar im Streit mit seiner Zwillingsschwester Dianne (Ada Philine Stappenbeck). Die Zwei schweigen sich an. Liegt’s daran, dass die Mama mal wieder einen neuen Lover (Sascha Alexander Geršak) hat? Kaum vorstellbar. Die Kinder ohne Vater sind an wechselnde männliche Mitbewohner gewohnt. Doch was steckt dahinter? Mit jugendlicher Unbekümmertheit, versucht Phil den Stunk zu ignorieren. Schließlich hat er noch Ferien. Und seine beste Freundin Kat (Svenja Jung) ist immer gut einen Spaß. Mit Schulbeginn vergisst Phil das Zuhause dann erstmal fast völlig. Denn der neue Mitschüler Nicholas (Jannik Schümann) beansprucht seine Aufmerksamkeit voll und ganz. Ist es Liebe? Kat warnt ihren Freund vor dem Fremden. Doch dessen rasender Herzschlag übertönt alle Unkenrufe…

Die Lovestory begeistert durch die Intensität des Schauspiels und die kluge Inszenierung. Übliches Vorabendserien-Trallala zwischen Himmel-hoch-jauchzend und Zu-Tode-betrübt bleibt aus. Die Erzählung reflektiert nämlich sehr genau gesellschaftliche Stimmungen und Strömungen, die derzeit auch hierzulande in konservative Richtung stakst. Da passt ein zentraler Satz wie die Faust aufs Auge: „Die Mitte der Welt ist für jeden woanders, je nachdem, wo man steht.“ Dumm nur, dass Phil seine Mitte erst noch finden muss.

Einige Kürzungen vom Buch zum Film waren notwendig. Sie sind mit Verstand und sensibel vorgenommen worden. Jakob M. Erwa hat dabei dem wesentlichen Gehalt der Buchvorlage klug vertraut. Drum setzt auch er, dabei dem Autor folgend, nicht aufs Grelle. Die Sexualität des Protagonisten etwa wird nicht für spekulative Szenen ausgeschlachtet, sondern, ästhetisch anspruchsvoll, als etwas ganz Selbstverständliches gezeigt. Schwul? Na und! Es geht nicht um das Bekenntnis zu einer bestimmten Form der Sexualität, sondern um deren Erwachen an sich, die Schwierigkeit, sich zu verlieben, Liebe zu schenken und auszuhalten. Was auf alle Figuren zutrifft. Wodurch die Chance gegeben ist, wie nebenbei soziale Muster in Frage zu stellen. Dabei wird die Geschichte um verwirrte Gefühle und ein Familiengeheimnis gleichsam von selbst zu einem Spiegel des Hier und Heute. Und in dem dürften sich viele, viele Kinobesucher entdecken können, egal in welchem Alter.

Stilistisch hebt sich der Film aufs Erfreulichste vom Üblichen ab. Einblendungen von Kindheitserinnerungen, gar auch mal von einem schlagenden Herzen, Verfärbungen des ganzen Bildes in Rot oder Goldflitter-Regen haben aber nichts Kitschiges. Die wilden Einfällen und die übermütig-rasante Schnittfolge bis hin zu Collagen wirkt durchweg harmonisch, genau auf die fragile Persönlichkeit des phantasiebegabten Protagonisten passend. Ihn, den Phil, verkörpert Louis Hofmann. Der jetzt grad mal 19-jährige Schauspieler wurde bereits mit -zig Preisen ausgezeichnet. Tatsächlich fiel er bereits mit starken Leistungen auf, beispielsweise in „Unter dem Sand“ und in „Freistatt“. Hier nun hat er seine bisher komplexeste Rolle mit Bravour bewältig. Er gibt dem zunächst überaus verträumt anmutenden Teenager nicht nur glaubhaft Gestalt, er spiegelt auch dessen seelische Nöte ohne jede Pose und bar aller Klischees. Man fühlt sich dem Jungen sehr schnell verbunden, jubelt mit ihm, teilt sein Bangen. Und man stürzt gemeinsam mit ihm in Verzweiflung, wenn die Handlung gen Ende in düstere Gefilde zu führen droht. Hofmann bietet dem Publikum eine ideale Projektionsfigur an: Sein Phil hat Charakter, doch der wird so gezeichnet, dass ich mich im Kinosaal problemlos einbringen, in ihn hinein denken und fühlen kann.

Gelegentlich wäre weniger mehr gewesen. Sabine Timoteo spielt die Mutter hinreißend schräg. Aber sie muss mindestens einmal zu oft recht exaltiert auftrumpfen. Das ist überflüssig. Doch auch nicht wirklich störend! Man übersieht es gern. Denn Phils Sinnsuche reißt einen völlig mit. In der „Villa Visible“ („Villa Sichtbar“), so heißt das Haus, in dem Phil und seine Lieben wohnen, kann man als Zuschauer viel Unsichtbares entdecken. Dabei wird einem mal wieder überaus klar, wie heftig Ungesagtes das Leben bestimmen kann, im Positiven, wie im Negativen. Man geht wirklich bereichert aus dem Kino.

Peter Claus

Bilder: © Universum Film

Die Mitte der Welt, von Jakob M. Erwa (Deutschland / Österreich 2016)