Fritz Lang hat 1960 in seinem Science-Fiction-Thriller „Die 1000 Augen des Dr. Mabuse“ bewiesen, dass Tricktechnik nicht alles ist. Philosophie und Schauspielkunst sind in seinem Film entscheidende Faktoren, ebenso 1966 bei François Truffaut in „Fahrenheit 451“, jüngst in der Dystopie „The Girl with All the Gifts“ vom Schotten Colm McCarthy. SF muss also nicht aus Hollywood kommen, um wirksam zu sein.

Das beweist jetzt auch Valentin Hitz. Der aus Deutschland stammende, überwiegend in der Schweiz lebende und vor allem in Österreich arbeitende Autor und Regisseur beleuchtet in seinem Spielfilm ein höchst verbreitetes Phänomen: die Zunahme an Misstrauen gegenüber dem Nächsten. Dabei konzentriert er sich auf einen Berufszweig, dem, zumindest in den Industrienationen, wohl kaum mehr jemand vertraut: Versicherungsunternehmen. Hitz hat dazu als Drehbuchautor eine originelle Idee ausgebrütet: In naher Zukunft kann der Tod ausgetrickst werden. Doch den Menschen wird es möglich sein, sich per Police das Recht aufs Sterben zu sichern. Heißt: Nicht mehr die Angst vor dem Ende geht um, sondern die vor dem Danach. Denn ist jemand etwa verschuldet, droht ihr oder ihm, deswegen zwangsweise 200 Jahre lang als komatöses Ersatzteillager ausgeschlachtet zu werden. Geld regiert die Welt, auch im Jenseits.

Identifikationsfigur für den Zuschauer ist Vincent Baumann (Clemens Schick). Ein Vertreter. Er verkauft Todesversicherungen. Sein Versprechen: Die Kunden werden nach dem Ableben nicht als Datenbank, Gebärmaschine oder Reparaturlager missbraucht. Von den Verträgen, man ahnt es sofort, hat nur einer was, der Konzern, der sie verkauft. Identifikationsfigur? Anfangs wohl kaum. Doch der Charakter wandelt sich. Denn Vincent begegnet Lisa Sukowa (Lena Lauzemis). Sie gehört zu Aktivisten, die das System ändern wollen. Vincent schließt sich den Kämpfern an. Vielleicht schaffen sie es ja doch, den Profiteuren wirksam Paroli zu bieten.

Der Film schillert in Grau. Wohl nie zuvor sah Wien, der Ort des Geschehens, im Kino trister aus, kälter, menschenfeindlicher. Valentin Hitz setzt auf ein kluges visuelles Konzept, um dem Film eine wirklich reizvolle Optik zu geben. Kameramann Martin Gschlacht hat ihn dabei unterstützt, indem er zwar oft nah an die Protagonisten geht, jedoch stets soweit weg bleibt, dass eine Aura von undurchdringlicher Eiseskälte dominiert. Es fröstelt einen. Je länger die in einer offenbar nicht sonderlich fern vor uns liegenden Zukunft angesiedelte Geschichte dauert, umso stärker schockiert sie schon allein deshalb, weil man mehr und mehr an die Gegenwart erinnert wird. Profitgier fern aller Pietät ist ja längst etwas Alltägliches.

Hauptdarsteller Clemens Schick trägt den Film mit seiner Präsenz. Der jetzt 45-Jährige gehört seit Jahren zu den verlässlichen Größen des deutschsprachigen (und auch internationalen) Kinos. Ein Star ist er bisher nicht. Zu Unrecht. Schick verbindet eine erotisch aufgeladene Erscheinung mit faszinierender Charakterisierungskunst. Die von ihm verkörperte Figur des Versicherungsvertreters hätte zum Pappkameraden werden können. Nicht so bei Schick. Er gibt Vincent ohne billige Dämonisierung eine neugierig machende Undurchsichtigkeit. Man bleibt an ihm, und damit an der Story, dran, weil man wissen will, ob er nun wirklich ein Guter geworden oder doch ein Böser geblieben ist. Und, ja, auch weil man ganz naiv wissen möchte, ob das Gute vielleicht doch einmal gegen das Böse gewinnt. Die Aussichten sind düster.

Peter Claus

Bilder: © Camino Filmverleih

Stille Reserven, von Valentin Hitz (Österreich / Deutschland / Schweiz 2017)