Mythos Sigmaringen – zwischen Tabuisierung und Dämonisierung |

Ein ideengeschichtlicher Rückblick auf ein dunkles Kapitel deutsch-französischer Geschichte und eine zweifelhafte Schuldzuschreibung an den Pazifismus als Hort der Kollaboration |

In der Tat,“ schreibt der Romanist Clemens Klünemann in seinem „Sigmaringen. Eine andere deutsch-französische Geschichte“ genannten Buch, „in der Tat geht die sogenannte Collaboration nicht in erster Linie aus dem Umfeld der katholisch-royalistischen Rechten hervor und auch nicht aus dem französischen Faschismus, vielmehr ist sie eine Konsequenz des Pafizismus der dreißiger Jahre, der besser mit Appeasement bezeichnet wird.“ Eine starke These, die Friedensbewegten wie dem Ex-Sozialisten Marcel Déat und seinem Ausspruch „Mourir pour Dantzig?“ noch einmal die historische Schuld am kollektiven Kollaps einer Nation in den Jahren 1940 bis 1945 zuschiebt. Auf deutscher Seite wäre ein Otto Abetz, Botschafter in Paris von Ribbentrops Gnaden, das passende Pendant. Der frankophile Abetz gehörte in den Weimarer Jahren zu den Initiatoren des Sohlbergkreises und rühmte sich bis in die 50er Jahre, ein Pionier der deutsch-französischen Verständigung gewesen zu sein. Wobei er später tunlichst verschwieg, dass diese Freundschaft selbstredend unter deutscher Führung stehen sollte und die stillschweigende Anerkennung der rassistischen NS-Ideologie einschloss.

In der Tat ist es aber so, dass sich die Kollaboration zwischen den Nachbarländern, also zwischen einem militärischen besiegten, moralisch desorientierten Frankreich und einem nach Weltherrschaft strebenden Hitler-Deutschland, in den Jahren von Vichy entfaltete. Sie war verbunden mit vielen Häutungen und Regierungsumbildungen, die häufig unter dem Einfluss deutscher Direktiven und Intrigen zustande kamen. Was in Frankreich später raunend „les années noires“ genannt wurde, war ein krudes Gemisch von Personenkult für den Marschall Pétain als den „Helden von Verdun“, dem Wunsch nach nationaler Erneuerung und technokratischer Ertüchtigung, einem alten Hass auf die Republik, die Frankreich sogar eine Volksfront-Regierung beschert hatte und deren Ministerpräsident auch noch der Jude Léon Blum war. Der seit der Dreyfus-Affäre nie erloschene Antisemitismus hatte in ihm eine neue Symbolfigur gefunden. Fazit: Die Kollaborateure waren ein Haufen von Männern – Frauen spielten keine öffentliche Rolle – mit den unterschiedlichsten politischen Biographien, Ansichten und Ambitionen. Bis zur überstürzten Flucht aus Vichy war daraus keine einheitliche, ideologisch gefestigte Front geworden.

Wenn Klünemann schreibt, dass in Sigmaringen die ehemaligen Pazifisten den Ton angegeben haben, dann stimmt das nur bedingt. Auch wenn sich Pétain zu diesem Zeitpunkt als Gefangener der Nazis betrachtete, und das Schloss in Sigmaringen nur zu Gottesdiensten und Spaziergängen verließ – als Symbol des „wahren, anderen Frankreichs“ war er weiter vorhanden. Den Deutschen so viel wert, dass sie ihm einen eigenen Wagen mit Chauffeur und jede Menge Vergünstigungen zugestanden. Oder Fernand de Brinon, der aus einer katholisch-adeligen Familie stammte, seit 1938 den Titel eines Marquis führen durfte, mit einer belgisch-jüdischen Frau verheiratet war. Als Journalist hatte Brinon in den 30er Jahren beste Verbindungen zu französischen Industriellen wie zu den Spitzen des Dritten Reichs. Brinon avancierte in Sigmaringen zum Kabinettchef einer Marionettenregierung, die zwar täglich noch eine Zeitung produzieren ließ, deren tatsächlicher politischer Einfluss aber marginal war.

Das Intermezzo von Sigmaringen, um das die Politiker wie Historiker beider Länder lange Zeit einen weiten Bogen geschlagen haben, mit einiger Verspätung wissenschaftlich zu behandeln, ist trotz diverser neuerer Publikationen immer noch ein lohnendes Ziel. Aber man kann einen blinden Fleck nicht erhellen, wenn einem dabei das Komplementärstück Vichy aus den Augen gerät. Die beschauliche Kurstadt Vichy war eine Scheidelinie vieler Lebenslinien. Die Anhänger des ungemein einflussreichen französischen Faschisten Charles Maurras fanden sich über die Gründung des „Etat Francais“, wie ihn Pétain ins Leben rief, mit einem Mal in den verschiedensten Lagern wieder. Bei Maurras und seinen orthodoxen Gefolgsleuten siegte die eingefleischte Germanophobie trotz Identifikation mit Pétain und Judenhass. Andere wie der Technokrat Yves Bouthillier verloren erst über einen der vielen Machtkämpfe Posten und Einfluss. Wieder andere wie Joseph Darnand und Louis Darquier de Pellepoix blieben bis zum bitteren Ende Teil der Kollaboration. Aber auch auf Seiten des Widerstands finden sich Parteigänger von Maurras. Um den eingangs zitierten Satz von Klünemann mit einem Paradox zu Ende zu bringen: Antisemitismus und Resistance schließen einander auch nicht aus.

Klünemann schmales Buch leidet darunter, mehr einen ideengeschichtlichen Überblick denn einen faktenbasierten historischen Rückblick zu geben. Der Autor, Honorarprofessor an der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg, mäandert zwischen Nietzsches Moralkritik und seinem „Menschen des Ressentiments“, den in beiden Ländern grassierenden wechselseitigen Neidurteilen über den jeweils anderen, den Versäumnissen des Elysee-Vertrags zwischen Adenauer und de Gaulle und Schilderungen aus dem Sigmaringer Kriegswinter 1944/45.

Sigmaringen – die Beschäftigung mit dieser Episode gebliebenen Hauptstadt Frankreichs schwankt zwischen Tabuisierung und Dämonisierung. Klünemann arbeitet sehr schön heraus, welch unheilvollen Einfluss Literatur in diesem Fall hatte. Louis-Ferdinand Céline, einer der prominenten Intellektuellen in der wohl 5000köpfigen französischen Kolonie im deutschen Exil, hat seine Erinnerungen in einen berühmt gewordenen Roman verarbeitet. In „Von einem Schloss zum anderen“ zeichnet er das grausige Bild einer mittelalterlichen Stadt, in der die Menschen an „Dreck, Hungersnöten, Kälte und Fieber verrecken“. Klünemann rückt die Maßstäbe zurecht: „All das ist jedoch eine Ideosynkrasie eines exzentrischen Autors, die indes nur zu gern für bare historische Münze genommen und entsprechend rezipiert wurde. Céline dämonisierte – und Céline exorzierte.“

Hier liefert das Buch ein anschauliches Beispiel für die zuweilen unheimliche Wirkmacht von Literatur, die selbst zum Geschichtsmythos werden kann und den Blick zurück mehr verdunkelt denn erhellt.

Michael André

 

Clemens Klünemann: Sigmaringen. Eine andere deutsch-französische Geschichte.

Matthes & Seitz, Berlin 2019

175 Seiten, Softcover

15 Euro