Im Schatten des Großherrn

Ein tausendseitiger Briefwechsel erinnert daran, was der Schriststeller Arno Schmidt und sein Schüler Hans Wollschläger vor 50 Jahren im Bamberger Underground trieben. Zweiter Teil

Ein Schuß in den Unterleib ist keineswegs das höchste der Gefühle. | Karl May: Der Geist der Llano estakata –

Als Arno Schmidt mit der Mitteilung aufwartet, Karl May in Bälde als „unterschichtigen Homosexuellen“ – als einen jener „Halbseidenen“, die „in beiden Sätteln gerecht sind“ – outen zu können, ist Hans Wollschläger, nach einer Schrecksekunde, Feuer und Flamme. Fortan kehren auch ihm „die harmlosesten Texte irgendeine Hinter-Seite zu“, und er beginnt mit Schmidt, dem er eigene Funde zuträgt, in Etym-Seligkeiten zu schwelgen. Anfangs tut er sich noch etwas schwer, „einen manifesten Befund vor die Augen zu bekommen: ich bin wohl noch zu ‚befangen‘ – vielleicht auch schlicht zu doof – um von selbst drauf zu kommen“. Doch bald stößt er auf erste Motive, die „nicht eben schwache persönliche Ingredienzien bergen müssen: und zwar eben ‚abartige‘ – um das wertschätzig gefärbte ‚entartet‘ zu vermeiden“.

Währenddessen macht Schmidt dem Ruf, den seine „literarische Verdauungskraft“ genießt, alle Ehre. In Rekordzeit hat er sich das Maysche Riesenwerk einverleibt und, dehydriert auf 350 Seiten, wieder ausgeschieden: in Form einer Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays, in der er die in KAFF auch Mare Crisium entwickelte und später so verschwenderisch gehandhabte „VerschreibKunst“ – jene Manie, statt Gulaschsuppe lieber „GhulArsch=Suppe“ zu schreiben – weiter vorantreibt, und deren „Sprengwirkung“, wie er dem Briefpartner prophezeit, „nur noch in Megatonnen auszudrücken sein“ dürfte.

Vom Objekt der Untersuchung bleibt nach der Detonation kaum etwas übrig. Die „Winnetutti, Winnetuttchen, Winnetuttalein“ (O. Flake) in alle Winde zerstoben, „der echte Budenorient“ (E. Bloch) pulverisiert, ist das 70stöckige Romangebäude zum pornographischen „Lachkabinett“ geschrumpft: Sitara und der Weg dorthin lässt „den einzigen grandiosen Erzähler von Männerschicksalen“ (C. Zuckmayer) allenfalls als „Unterleibeigenen“ gelten, als Sexmaniac, zu dessen großen und bleibenden Leistungen der Bargfelder „Bücherfresser“, neben den karnevalistischen Qualitäten des Silberlöwen, die „Verwandlung der Genitalien in Landschaft, und dann deren Steigerung bis zu Planetengröße“ rechnet. Mit Ardistan und Dschinnistan sei ihm immerhin die „Versetzung des menschlichen Hinterns unter die Gestirne“ gelungen, und er stellt ihm, als biedermeierliches Pendant, den heterosexuellen Landschaftsmaler Adalbert Stifter zur Seite: „Ich schlage auf die Art das Deutsche Kalb gleich in beide Augen!“


Typische Landschaft bei Karl May: Skizze von Arno Schmidt | (c) Arno Schmidt Stiftung

Da bei Schmidt, sobald er „Freund MAY“ unter Laborbedingungen betrachtet, „grundsätzlich als erstes das Zwerchfell“ reagiert, ist die Studie, deren Nebentitel sich an eine küchenpsychologische Schrift anlehnt, die in Bamberg unter Verschluß steht und in den Briefen immer wieder eine wichtige Rolle spielt, bei aller Etymhuberei hochkomisch geraten, denn ihr Verfasser hat mit lockerer Hand „viele gute=schlechte Witze“ hineingestreut, Witze jeder Couleur und Güte, die sich über Monate in einem Extra-Umschlag angesammelt hatten; das Buch dürfte nicht zuletzt deshalb für mich, Mitte der achtziger Jahre, die Einstiegsluke in Schmidts Welt gewesen sein. Wer seinen May nicht mit der Muttermilch eingesogen hat, ist für Sitara – 20.000 gute Witze hin oder her – wohl dennoch verloren, und womöglich auch für den voluminösen Briefband, der so etwas wie das Making-of dazu bildet.

Als die „naturwissenschaftlich sehr ernst zu nehmende Studie“ (A. Schmidt) im März 1963 im „Börsenblatt“ angezeigt wird – „des Fluchens war schier kein Ende“, meldet Wollschläger aus der Zentrale und vermerkt „ausführliches Grunzen sämtlicher Mannen“ – und der kurz vor der Enttarnung stehende Maulwurf wiederholt zu Beichtstuhlgesprächen antreten muß, schlägt dieser sich mit dem Gutachten, das er im Auftrag seiner Vorgesetzten über das Werk erstellt, erstmals offen auf Schmidts Seite: „Wenn ich deswegen ein Schwein sein sollte“, so der verwegene Schlußsatz, „bitte ich um Mitteilung und Begründung: mir selbst ist es noch nicht bewußt geworden.“ Daß er seine Chefs nebenbei darüber aufklärt, daß es sich beim Wunder der Homosexualität nicht etwa um ein „’Vergehen‘ handelt, sondern um Krankheit“, sei nur am Rande erwähnt, wie auch, daß Wollschläger in der Studie später nichts als eine „mörderische Schwulenhatz“ erblicken mochte und das Werk – in der ihm eigenen Überspannt- und Albernheit – als literarischen „Mordversuch“ wertete, als „das inhumanste Literatur-Buch, das ich kenne“.

Da war der Adlatus längst zum Starübersetzer – „Der konnte nun wirklich nix“, stänkerte noch 2007 Harry Rowohlt –, zum Tierrechtler und Kirchenkritiker gereift, nicht ohne immer noch an jenen Herzgewächsen zu feilen, aus denen mittlerweile, will man einer Erzählung Eckhard Henscheids folgen, regelrechte „Schmerzgewächse“ geworden waren. Das epochale Unterfangen, das Schmidt als „relativ sehr gutes Buch“ gelobt und den Verlagen Stahlberg, Rowohlt und Suhrkamp aufs wärmste empfohlen hatte, hatte 1982 eine Teilpublikation im Zürcher Haffmans-Verlag erfahren, und so findet der Beau der Karl-May-Forschung, als der Wollschläger inzwischen gelten durfte, sich wenig später unter verballhornisiertem Namen in jenem Reisebus wieder, der ihn in die französische Hauptstadt hinüberschaukeln soll, zu einem „schönen Puffbesuch“.

Bereits als der Veranstalter unseren „Romancier Hans Wüllenweber“, trotz sommerlicher Temperaturen in Schal und Wintermantel gehüllt, mit einer kleinen Reiseapotheke begrüßt, gehen Erfindung und Wirklichkeit untrennbar ineinander über – zumindest für den, der eben noch mit Wollschlägers Korrespondenz befaßt war. Es ist, als wollten die 200 Briefe Henscheids Porträt nachträglich beglaubigen, was nicht nur an den zahlreichen Gesundheitsbulletins liegt, die ihnen regelmäßig beigegeben sind.

Mal zwingt ihn der Verdacht auf eine kleine Gehirnerschütterung („Mein ganzes Kapital für die Zukunft“) „in die Horizontale“, dann wieder streckt den Bamberger „die zweite ‚Schluckimpfung‘ gegen Polio“ zu Boden. Er verbringt, „vertracktester Schmerzen halber“, ganze Wochen „weitgehend auf einem Heizkissen“, und kaum sind „Schnupfen, Bronchialkatarrh und Rippenfellreizung“ ausgestanden, melden sich die Bandscheiben, lädiert „durchs permanente Gepäcktragen“ beim letzten Griechenlandurlaub. Doppelseitige Augenentzündungen lösen dicke Mittelohrentzündungen ab („bin dreiviertel=taub“), da steht auch schon „die Dame INFLUENZA“, Wollschlägers liebster Logiergast, vor der Tür.

Da er Gründe habe, zuweilen an seinen Exitus zu denken, vermacht der 27jährige die stibitzten May-Materialien samt „Bücherhort“ schon mal prophylaktisch dem Kampfgefährten („sollte ich vor Ihnen dran sein, geht natürlich automatisch alles an Sie“), als ihn im Rasierspiegel, diesmal liegt’s am Umzugsstreß, „das Leiden Xsti zu Pferde“ anblickt bzw. „Frau Grippe“ („es muß zu=schön gewesen sein! Bei=mir im=Bett“) „erneut zur Attacke“ bläst. Und wieder tropft es „unablässig von der Nase in die Maschine hinunter“. Spätestens hier vermißt man das ein oder andere Faksimile; das Entziffern der betropften Blätter dürfte nicht immer ganz leicht gewesen sein.

Selbst als Neuigkeiten eintreffen, die den „gegenwärtig wieder grippig Bandscheibenlädierten gleich kühner durchs Zimmer hüpfen“ lassen – Schmidt verspricht, Wollschlägers kleine May-Monographie in einem der großen „Quarkblätter“ zu rezensieren –, hält die akrobatische Stimmung nicht lange vor: Schon bald, Schmidt liest’s „mit Bekümmernuß“, steht der Tank wieder „auf Reserve“, und der Brieffreund fühlt sich als „mittelgroßer Papierkorb, in den so viel hineingestopft ist, daß es kaum noch darin raschelt“.

„Viel krank seither – Kreislauf, Herz, Nieren“ heißt es zusammenfassend im Januar 1968, und auch im Januar 1970 – da aber antwortet der Empfänger ihm schon längst nicht mehr, und wenn doch, nur noch auf vorgefertigten Kärtchen – ist er wieder „aufs abscheulichste krank“, die „asiatische Grippe“ erlaube ihm „immer nur für Halbestunden, den Kopf aus dem dicken Fieberdunst zu heben“. Im Juli 1980 schließlich – inzwischen sind die Krankeitsbulletins an Schmidts Witwe Alice gerichtet – gelingt es ihm, „in die Hände eines Urulogen“ zu fallen; Linderung verschafft erst wieder die Nachricht, man wolle ihm – wem sonst? – den eben gegründeten Arno-Schmidt-Preis überreichen. „Mir ist“, läßt er die Witwe wissen, „als wäre ich mit einem Ornat bekleidet worden und schritte nun als wahrhaftiger Würden-Träger durch den Rest meiner Tage“; „ganz darüber beruhigen“ werde er sich „wohl erst in ein paar Jahren“, dann, wenn andere Preisträger ihm zur Seite stünden. Gar zu lähmend lege sich ihm „die Frage meiner Würdigkeit“ („eine Frage, die mich seit 1957 nie verlassen hat“) auf die Seele.

Überhaupt nimmt der Briefwechsel, der sich Mitte der siebziger Jahre zwischen Hans Wollschläger und Alice Schmidt entspinnt und in der vorliegenden Ausgabe erfreuliche 55 Seiten beansprucht, zuweilen recht sonderbare, nachgerade bizarr-muckelige Züge an. Was das Lesevergnügen nur erhöht, zumal sich ein reizvoller Kontrast auftut: Während Wollschlägers Episteln die Mitte halten zwischen Inbrunst und Schwulst und besonders nach Schmidts Tod immer zeigefreudiger werden, nehmen sich Alice Schmidts Auslassungen eher bodenständig und gefaßt aus, wobei sich bei Gelegenheit, etwa als ein Feuerteufel Bargfeld heimsucht, auch mal Volkes Stimme Bahn bricht.

Als Frau Alice – „überall hier herum“, schreibt sie am 19. März 1975, „brennt’s bombt’s, raubt’s und mordet’s ja“ – „unsere die Unterelemente eher begünstigende Gesetzgebung“ beklagt, pflichtet Wollschläger ihr, wenn auch mit sieben Briefen Verspätung, voller Emphase bei: „Man kann ja heutzutage schon froh sein“, schreibt er am dritten Advent 1977, „wenn die einen umgebenden Mitmenschen sich mit der bloßen Brandstiftung begnügen, statt einem die Familie zu entführen oder Bomben in den Garten zu werfen“.

Kein Wunder, daß das „Bamberger Krallentier“ (J. Schröder) sich gehalten sieht, wenigstens auf dem Papier „zurück in die Alte Zeit“ zu reisen; an die Seite des „großen und guten Vaters, den ich“, so niedergelegt im Großen Glaubensbekenntnis vom 12. September 1979, „geliebt und verehrt habe wie niemanden sonst“, den kennengelernt haben zu dürfen „der größte Glücksfall“, in dessen Nähe weilen zu dürfen „die größte Wohltat meines Lebens war“. „Ich denke mir, daß Sie – auf Vergangenheit & Zukunft meiner Existenz gesehen – überhaupt d a s eine Ereignis sind, das mir entscheidend zuteil werden konnte“, hatte er dem Lehrer schon früh, nach einer der ersten Hausbesuche gestanden – ein Ereignis, vor dem jeder ihm „bislang widerfahrene Begriff von ‚Freundschaft’“ zu einer „bloßen Lappalie“ werde.

„Ich führe überhaupt manchmal so eine Art Selbstgespräch mit ihm, erläutere ihm, was ich mache und plane, und manchmal sehe ich ihn dazu nicken, wie er’s früher tat“, vertraut der nicht eben sympathische, aber eben auch nicht unsympathische Mittvierziger im Juli 1980 der Witwe an. Man sieht sich an Bilder aus Mays Auferstehungsroman Am Jenseits erinnert, dem Wollschläger noch zu Schmidts Lebzeiten eine seiner charakteranalytischen, von Weihrauch und Kunstnebel verdunkelten Exegesen gewidmet hatte. „Winnetou, der nüchternste, der hell- und scharfdenkendste aller roten Männer, war gewiß kein Phantast“, heißt es im dritten Kapitel des Fragment gebliebenen Romans, in dem Scheintote, Schutzengel und Schurken über letzte Dinge schwadronieren, „aber zuweilen, wenn wir miteinander im nächtlichen Dunkel lagen, rings von Gefahr umgeben, da geschah es, daß er die Hand hob, um grüßend rundum zu winken, und als ich ihn einst fragte, warum er das thue, antwortete er: ‚Mein weißer Bruder frage nicht. Wir sind beschützt, das mag dir genügen!’“


Szene aus Arno Schmidts Alterswerk Abend mit Goldrand – einem kreglen Liebesreigen vor dörflichem Hintergrund
(Illustration aus: Arno & Alice. Ein Bilderbuch für kleine und große Arno-Schmidt-Leser).

So will auch ich nun grüßend winken und es vorerst genug sein lassen. Auch wenn mir – jetzt, wo der Buchdeckel zugeklappt ist – zur eigenen Verblüffung schwer aufs Herz fällt, daß ich in Arno & Alice, meinem Bilderbuch für kleine und große Arno-Schmidt-Fans, Hans Wollschläger absichtlich vergessen bzw. in eine Fußnote verbannt habe, die er sich auch noch mit dem ganz unwichtigen Kasimir Edschmid teilen muß. Also habe ich mich noch einmal hingesetzt, Arno Schmidts größten und einzigen Schüler, den ersten und ewigen Postulanten aufs Hirntier-Amt, ins Bild zu erlösen.

Nach den großen Ferien empfängt Alice Schmidt ihren Nachhilfeschüler Hans Wollschläger mit einer schlesischen Zuckertüte. Der 28-Jährige bedankt sich mit einer Probe aus
seinem Zauberepos HerzGewi/ächse – einer Prosafantasie von mausgrauer Musikalität.

Besitzer des Büchleins von 2012 sind gebeten, das verspätete Blatt auszudrucken und an passender Stelle, vielleicht zwischen „Karneval in Bargfeld“ und Schmidts Weltraumabenteuer, einzulegen – ungefähr so, wie man ein Heiligenbild ins Gesangbuch einlegt. Der Bedeutung Wollschlägers für den Schmidt-Kosmos dürfte damit Genüge getan sein.

Wenzel Storch | erschienen in „konkret“ 6/2019

Statt zu den Herzgewächsen greift Wenzel Storch lieber zu O. Ferrys Ein Herz und eine Krone oder blättert in der zweibändigen Petzi-Gesamtausgabe.

Bild ganz oben: Schreibmaschine und Brille von Arno Schmidt im Bomann-Museum Celle | 14 May 2014 | Own work | Hajotthu

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Arno Schmidt: Bargfelder Ausgabe. Briefe von und an Arno Schmidt.

Band 4: Der Briefwechsel mit Hans Wollschläger.

Herausgegeben von Giesbert Damaschke

Suhrkamp, Berlin 2018

1.034 Seiten, 68 Euro

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Wenzel Storch:

Arno & Alice.

Ein Bilderbuch für kleine und große Arno-Schmidt-Fans

Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2012

88 Seiten, 20 Euro