lieber lothar,

du solltest den essay über die schönheit, die hunde und das schleifen der kunst längst haben: ihn zu schreiben fällt mir schwerer als gedacht, es wird noch dauern. vielleicht hab ich auch zu viel, zu oft über das gesprochen, was mich umtreibt: weil es mich umtreibt. sollte man nicht, wie ich weiß, sehr gut weiß, auch mansfield hat sich das verboten (und dann doch nicht davon lassen können), und handke hat im frühjahr 1978 – ’die zeit und die räume’, heißt das buch jetzt notiert, „schon wieder hat er ausgeplappert (wenn auch ganz ruhig redend), was er eigentlich schreiben wollte.“

was handke dann schreibt, aufgeschrieben hat, diese fetzen von eindrücken, das grau, das er im frühlingsmorgen sieht, im gras, im „steinteig des universums“, die zitate, die er verwendet: als würde er die umarmung suchen mit denen, die es vor ihm gewußt haben. die stimmungen, die er erschafft, manchmal genügen ihm dazu zwei worte. das herumdoktern am ich, innen sein, außen, jeder ist alle und er die alleinheit. er will das: schöpfer sein, er will den humor, er schätzt die sehnsucht, dem spiel steht er zwiespältig gegenüber: mal ist es rettung, mal gefahr. landschaft, gefühle, methpaher. denken, das sich im reden entwickelt, unmittelbarer prozess, in hemdsärmeln denken, in unaufgeräumten zimmern: und man schaut zu. kann man das: anderen beim denken zusehen. brando konnte so spielen, konnte das: schiere körperlichkeit, die nicht nur seine gedanken, auch ihre enstehung sichtbar macht, heute noch, wenn man ‚the chase‘ wieder sieht.

und handke sagt wolken, sagt fenster, sagt tiere, klein sind sie meist und verletzt. sagt bäume: beinahe so oft und unterschiedlich wie lobo antunes. sagt häufig träume und schlaf: dort kommt es her. aber er hat auch, obwohl kein deutscher, diese so schwer deutsche eigenart, wörter wie güterwaggons aneinanderzureihen, eins ans nächste an noch eins, zu einem neuen endlosen begriff: meeresabfallbeseitigungsboot, sagt er. oder: eidechsenweglaufrascheln. so lang, wie dieser zug ist, muß er sich gar nicht erst in bewegung setzen, man gelangt von ort zu ort indem man einfach vom letzten wagen bis zum ersten durchspaziert. ist eh handkes bevorzugte fortbewegung. (was aber auch geschieht, wenn man handke liest: man wird sich der worte anders gewahr, nicht auf sinnliche art, eher architektonisch: zwei synoyme für augenblick, ineinandergeschachtelt türmen sie sich im monument zu etwas steinernem über den augenblick hinaus).

so anders die sätze von john burnside, sätze, gediegen gearbeitet wie irdenes geschirr, aus dem man zu sich nimmt, was man vom feld geerntet hat, was einen ernährt: doch das ist nur, wie er schreibt. was er schreibt, ist ganz anders, schlägt ihm den stil, schlägt ihm das irdene fast aus der hand. worte, mit denen er in nahezu jeder erzählung jongliert: geheimnis, schnee, zukunft, glück (natürlich: bei dem titel), spuren, leere, zufall, stille, geister, tote, gespenster. manchmal ein messer. burnside hat spiegel aufgestellt, in seinen geschichten, die auf andere dimensionen verweisen. da sind menschen voller abwesenheiten, gedankenverloren: ihr körper sichtbar, ihr wesen weilt anderswo, und dann ist auch der körper verschwunden. und die, die bleiben, bleiben nicht aus überzeugung: sie führen ein geflicktes leben, möglicherweise nicht einmal ihr eigenes. und dazwischen, profund und schön, vorstellungen davon, wie es früher um die dinge bestellt war, bevor es uns gab. erzählungen, die weh tun, verwunden: um sich anschließend wie ein mullverband auf die blutenden stellen zu legen. zum trost hat burnside in ihnen orte geschaffen, wieder und überall, dorthin ziehen die beschädigten sich mit ihrer unbedarften, verqueren, zerlumpten, hilflosen liebe zurück, orte, die zuflucht sind vor dem rest der welt, orte zum bücherlesen.

du kannst dir nicht vorstellen, lothar, wie viel ich gelesen habe in den letzten wochen. bücher, in denen einer darum kämpft, verzweifelt und abgefunden, am leben zu bleiben, seine unverbundenheit mit der welt, sein lebenszersetzender zustand wie „eine störung im kosmos“. die sätze, die er benutzt, davon zu berichten, karg, streng fast, faserig und grob, schneiden wie zu enge fesseln ins fleisch. (früher hat antrim vom smaragdenen licht in der luft geschrieben, wildwuchernd, phantastisch, nervlich angegriffen war sein schreiben auch da, doch ins chaos setzte er leuchtende muster).

cher, deren übersetzte titel ich nicht teile. wenn sylvia plath ein gedicht mit der zeile beschließt: the heart has not stopped, pocht die folge davon natürlich im jetzt, pocht weiterhin, ja, doch der benannte grund ist im vergangenen verankert, und: das herz steht nicht still (wie der gedichtband auf deutsch heißt), ist über die bloße mechanik hinaus höchstens unruhe, verbindet, was war, nicht mit dem, was ist, erzählt nichts, ist nicht nur poetisch falsch, ist nicht sylvia plath. weshalb man für die linken seiten des buches mehr als dankbar sein kann: dort steht, was sie zu sagen hatte. im original.

cher ohne schlaf, ein jahr lang hat er sich entzogen: und nichts, was die autorin versucht, kann ihn zum bleiben bewegen, und so redet sie, in ihren schlaflosen nächten, von erscheinungsformen, von beweisen, die es nicht gibt, vom polieren silbernen kerzenleuchter, vom nichtwissen der wissenschaftler. (und ich bin dort voller freude den piraha wiederbegegnet, die mir tom wolfe vor so vielen jahren in seinem ‚königreich der sprachenahegebracht hat, die ohne zahlen leben, ohne das vergehen von zeit und mühelos chomskys theorie der rekursion widerlegen). was bei diesem buch aber auch gilt: das gesicht hinten auf der umschlagklappe, das gesicht der frau, die auf den seiten davor worte zu blütenreichen gedankensträngen geflochten hat, zu einfachen schönen sträußen, zu kränzen, die man auf gräber legt, ihr gesicht ist blanke abwehr. eine leugnung dessen, was sie geschrieben hat, ein widerruf. mit ihrem gesicht sagt sie sich los: sie will nicht im feuer brennen.

cher auch, leider, die es nicht wert sind, eins heißt in simpler einsicht ‚papierkorb‘, dort wäre fast alles, was darin steht, auch besser geblieben: man sieht den dürftigkeiten das zusammengeknüllte an (und wer würde etwas ernstnehmen, das der verfasser selbst schlampig behandelt: oder hofft er, ein belangloser aphorismus auf seite 14 gewinnt an bedeutung, wenn er ihn auf seite 42 noch einmal kopiert). im ‚fliegenpapier‘, zwischen gepflegt vorgeführtem bildungsbürgertum, zwischen details am rande und debatten im feuilleton, belesen und gelesenes darbietend, und alles so hübsch und harmlos folgerichtig formuliert, kein wilder ausfallschritt, kein sprung über die hecke, aber völlig überraschend dazwischen: die anerkennung des übersinnlichen, die notwendige erkenntnis, „offenbar wissen wir noch nicht alles.“

manchmal übrigens, wenn ich leute sprechen sehe, kommt mir, nicht, was sie sagen, aber ihre lippenbewegungen kommen mir häßlich vor, störend: aufgeworfene erde, als würde ein grab ausgehoben. (kaum geschrieben, sind die sätze an dieser stelle zuviel, gehören ganz sicher in einen anderen zusammenhang, aber sie sind aufgetaucht: also stehen sie erstmal da, sie werden irgendwann ihren endgültigen platz finden).

das wunderbarste zum schluß (hast du dir, als du klein warst, wie so viele kinder, was dir am besten schmeckt, aufgehoben, bis alles andere gegessen war: was natürlich gleichzeitig ein bißchen blöd ist, dann ist man satt, es wäre davor doch besser gewesen), ‚die arbeit der vögel‘, eigentlich alles von marica bodrozic: ’seelenstenogramme‘, nennt sie, was sie denkt und wahrnimmt und fühlt und danach in worte faßt, was sich aus den seiten aufschwingt, musik wird, andacht, was von vergangenen namen handelt, von grünen palmen, vom ich und vom selbst, vom recht auf rätsel, vom unterschied zwischen innerer und äußerer zeit, von benjamins weg in den tod. schmetterling ist meist nur ein wort in schwarz, es in ihren sätzen zu lesen, heißt, den tanz der flügel zu sehen. man kann sagen: ihre bücher sind verhaltene aufrufe zur menschwerdung (was auch heißt: gegen maschinen, gegen die angst, gegen bloßes funktionieren, gegen gehorsam, „wer gehorcht“, schreibt sie im ‚weißen frieden‘, „folgt der sprache eines anderen, wer folgsam ist, hat nicht gelernt zu denken“. wir haben früher mal lieder gehört mit zeilen wie „i wasnt born to follow“, jetzt sammeln sie follower wie der rattenfänger hirntote). man kann sagen, sie feiert den gedanken als ereignis. und wird ihr nicht gerecht: soviel bleibt dabei ungesagt. lies sie einfach, lothar, was bei ihr steht, ist, als würde das herz entziffert.

ich werde erneut zu ihr greifen für meinen essay zur verteidigung der schönheit, auch wenn sie, ernst und schön und wahr, wie sie ist, das bedürfnis nach pathos schürt: doch wenn es die sache verlangt, muß man halt das flammenschwert ziehen.

bis demnächst, bis ganz bald,

und auch an karina herzliche grüße

ingrid

© ingrid mylo

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Bild ganz oben: Cover (Ausschnitt) | Michael Maar: Fliegenpapier  | © Rowohlt 2022

alle Coverabbildungen: © Verlag

 

Peter Handke: Die Zeit und die Räume

Notizbuch 24. April 26. August 1978

Suhrkamp 2022 / 309 S. / 34,-

 

 

 

 

 

 

John Burnside: So etwas wie Glück

Geschichten über die Liebe aus dem Englischen von Bernhard Robben

Penguin 2021 / 252 S. / 24,-

 

 

 

 

 

 

Marcia Bodrozic: Die Arbeit der Vögel

Seelenstenogramme

Luchterhand 2022 / 345 S. / 22,-

(und die anderen von ihr: Sterne erben, Sterne färben /

Mein weisser Frieden)

 

 

 

 

Sylvia Plath: Das Herz steht nicht still

Gedichte / Zweisprachige Ausgabe (zum Glück)

aus dem Englischen von Judith Zander

Suhrkamp 2022 / 210 S. / 25,-

 

 

 

 

 

Samantha Harvey: Das Jahr ohne Schlaf

Aus dem Englischen von Julia Wolf

Hanser Berlin 2022 / 174 S. / 23,-

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Donald Antrim: An einem Freitag im April

Eine Geschichte von Suizid und Überleben

aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

Rowohlt 2022 / 154 S. / 24,-

 

 

 

 

 

Michael Maar: Fliegenpapier

Vermischte Notizen

Rowohlt 2022 / 124 S. / 20,-

 

 

 

 

 

 

Jürgen Hosemann: Papierkorb

Über Leben und Schreiben

Berenberg 2022 / 126 S. / 20,-

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