Action und Anspruch

In Cottbus wiederholt, setzt sich fort, was schon auf den meisten Filmfestivals dieses Jahres zu beobachten war: der Trend geht zum Kammerspiel, zu traditionellen Erzählformen fern des Experimentellen; die Schauspieler stehen im Mittelpunkt, haben Gelegenheit, in prallen Geschichten, ausgereifte Charaktere zu formen. Dabei wird Historisches gern als Folie für die Gegenwart benutzt.

Russland schickte hier „Kraj“ ins Rennen um Publikums- und Jury-Gunst. Der Film blickt zurück auf 1945 und schildert den Alltag im Gulag. Irgendwo in Sibirien sind Frauen und Männer zusammengepfercht, die in Stalins Augen „Kriegsverbrecher“ waren: Frauen, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden waren, Männer, die in deutschen Kriegesgefangenenlagern überlebt haben. Nun also Zwangsarbeit, Demütigung, Aussonderung. Wie haben sie sich ihre Würde bewahrt? Dieser Frage wird in einer Art Western nachgegangen, holzschnittartig, sehr dem Mainstream verpflichtet. Der Film sieht ein bisschen so aus, wie sich von der Erfahrung des Sozialismus’ geprägte Zuschauer vorstellen, dass sich wiederum „Wessis“ Filme aus dem Osten wünschen. Verwirrend, dabei durchaus wirkungsvoll, aber nicht wirklich gut, weil einfach zu simpel.

Filme wie „Kraj“ weisen auf das Hauptproblem, das einem hier immer wieder in den Sinn kommt: die nach wie vor unüberbrückbar erscheinende Kluft zwischen Ost und West. Da können noch so viele aus dem Osten stammende Filmemacher im Westen arbeiten und umgekehrt – die Klischees sind längst von der Wirklichkeit übernommen worden, das Trennende wird deutlicher und deutlicher, ja, sogar schärfer, als vor etwa einem Jahrzehnt.

Cottbus, wo es auf dem Markt noch Bockwürste mit Mostrich und Brötchen gibt, die schmecken, wie sie zu Omas Zeiten schmeckten, und Baumkuchen, der offenbar noch mit der richtigen Zahl von echten Eiern gebacken wurde (sechzig – ! – auf einen Baumkuchenstamm), ist in diesen Tagen durch das Filmfestival ein konturenscharfer Spiegel europäischer Realität – die Mauer ist weg, der Graben wird tiefer.

Schockierend nicht allein das. Erschreckend auch: die Kluft zwischen den Generationen wird offenbar immer größer. „Tilva Ros“ aus Serbien hat’s belegt: Die Geschichte vom jugendlichen Bruderpaar, das in einer verödeten Ex-Bergarbeiterstadt nach Zukunft sucht, spaltete extrem: Wo sich die Jungen in Videogame-Reports und Surfbrett-Philosophie wiederfanden, winkten die Alten nur ab. Die Diskussionen auf den Fluren und in den Foyers waren entsprechend heftig und spannend und aufschlussreich.

Nach wie vor: der Zuschauerzuspruch ist enorm. Das sorgt natürlich für eine überaus befruchtende Atmosphäre. Das Festival – soviel ist schon sicher – ist ein Erfolg. Ich jedenfalls werde im nächsten Jahr auf jeden Fall wieder her fahren!

Peter Claus


Kraj (Russland 2010, Regie: Alexey Uchitel, Besetzung: Vladimir Mashkow, Anjorka Strechel, © Rock Film)