Alljährlich im August treffen sich in Locarno über 160.000 Zuschauer und Zuschauerinnen, 1.000 Medienleute und 3.000 Branchenvertreter und machen die kleine Stadt in der italienischen Schweiz  zur Welthauptstadt des Autorenfilms.

Locarno, 04. August:

Nix mit der sonst üblichen knalligen Touristenwerbung an den Plakatwänden: Locarno, eines der beliebtesten Urlaubsziele in der Schweiz, steht bis zum 14. August ganz im Zeichen des Kinos. Die Hotels sind ausgebucht, die Zeltplätze überfüllt und die kleinsten Kammern vermietet. Kino-Enthusiasten aus aller Welt sorgen in den nächsten elf Tagen und Nächten (!) für Trubel im Tessin: Das 63. Internationale Filmfestival von Locarno macht’s möglich.

Die Madonna del Sasso, die Schutzheilige des Ortes verspricht gutes Wetter. Das ist auch notwendig. Kein anderes Filmfestival hängt so sehr wie dieses von einem wolkenlosen Himmel ab. Denn die abendlichen Freiluftaufführungen auf der mittelalterlichen Piazza Grande für jeweils rund achttausend Zuschauer sind der Clou des neben Berlin, Cannes und Venedig wichtigsten europäischen Filmfestivals.

In diesem Jahr ist die Spannung besonders für Filmfans aus Deutschland groß: Von den 18 Produktionen, die sich um die Goldenen und Silbernen Leoparden im Hauptwettbewerb rangeln, wurden gleich vier mit erheblicher finanzieller Beteiligung aus Deutschland realisiert. Durchaus möglich also, dass einer der Leoparden am 14. August Richtung Köln, Berlin oder Hamburg geht. Für Deutschland am Start sind „Im Alter von Ellen“ von der aus Südafrika stammenden Pia Marais, „Belli, Belisvet“ von dem serbischen Regisseur Oleg Novkovic, „Womb“ des Ungarn Benedek Fliegauf und „LA. Zombie“ von Underground-Kultregisseur Bruce LaBruce aus Kanada. Seinem Beitrag gelten vorab die meisten Spekulationen, denn der Regisseur präsentiert mit dem Franzosen François Sagat einen Pornostar in der Hauptrolle. Im Wettbewerb der Sektion „Cineasti del Presente“ ist Deutschland mit „La Lisière“ vertreten. Auch in die von der Schweizer Kritikervereinigung ausgerichteten renommierten „Settimana della Critica“, „Woche der Kritik“, hat es ein deutscher Beitrag geschafft: die Dokumentation „Das Schiff des Torjägers“ von Heidi Specogna. Die zahlenmäßig starke Präsenz deutscher Filme erklärt sich daraus, dass das Festival bei der Auswahl den Schwerpunkt auf die Arbeiten noch unbekannter Autoren und Regisseure gelegt hat. Hier macht sich die reiche Nachwuchsförderung an den deutschen Filmhochschulen positiv bemerkbar. Bezahlt macht sich auch, das starke finanzielle Engagement deutsche Produzenten bei internationalen Koproduktionen.

Besonders verlockend ist in diesem Jahr die Retrospektive. Sie gilt dem 1947 verstorbenen deutschen Schauspieler, Autor und Regisseur Ernst Lubitsch, dessen in den 1930-er und 40-er Jahren in Hollywood entstandene Komödien, wie „Ninotschka“ mit der Garbo, sind legendär. Die Entscheidung, endlich einmal wieder eine filmhistorisch spannende Retrospektive auszurichten, fällte der neue künstlerische Direktor, der 39-jährige Franzose Olivier Père. In den Jahren 2004 bis 2009 hat er die „Quinzaine des réalisateurs“, der wichtigen unabhängigen Programmsektion beim Internationalen Filmfestival von Cannes, geleitet. Pére gilt als Kenner des jungen Kinos und als leidenschaftlicher Verfechter eines Stils, der Anspruch und Glamour vereint. Klugerweise hat er den Versuchen seiner Vorgänger, das Festival mit allerlei pseudoaktuellen Polit-Events ins Gespräch zu bringen, eine deutliche Absage erteilt. Er konzentriert sich auf die Präsentation von Filmen, die seiner Meinung nach durch das Festival gefördert werden sollten. Zu seinen guten Entscheidungen zählt auch, dass er das Programm verkleinert und zum Beispiel den Internationalen Wettbewerb nicht unnütz vollgestopft hat, nur um quantitativ einen Rekord aufzustellen. Mit ihm kehrt Locarno offenbar zu dem Erfolgsrezept der 1990-er Jahre zurück: Das kleinste unter den großen Filmfestivals will beachtenswerte Produktionen fördern, die sich im Kinoalltag neben den mit finanzstarken Werbeetats ausgestatteten Großproduktionen durch Qualität behaupten.

Einziges Manko dieses Festivals: Die Qualität des Essens. Auch Freaks, die sich am Tag bis zu fünf, manche gar sechs Filme „reinziehen“, haben gelegentlich Hunger und Durst. Das schafft in Locarno Probleme. Die (meist sehr teuren) Restaurants füttern ab. Leckerbissen finden sich selten auf den Speisekarten. Die sind auf den Festivalleinwänden sehr viel häufiger zu entdecken.

Autor: Peter Claus