Tag 10

Wie immer: die Jury hat mit zum Teil unerwarteten Entscheidungen verblüfft. Wobei die fünf Juroren doch weitestgehend klug geurteilt haben. Denn die Preise gingen in der Mehrzahl an Filme, die Unterhaltung und Anspruch, d a s Markenzeichen des Filmangebots in Locarno, klug und wirkungsvoll miteinander verbinden.

Schön, dass Eva Trobischs „Alles ist gut“ in der Sektion „Cineasti del presenti“ überzeugen konnte. Schade, dass „Wintermärchen“ leer ausgegangen ist. Jan Bonnys Anti-terrorismus-Drama war einer der ungewöhnlichsten und kraftvollsten Beiträge des internationalen Wettbewerbs.

Nach dem Ende des Festivals ist vor dem Start des nächsten: Wer wird die künstlerische Leitung in Locarno übertragen bekommen. Die Entscheidung soll in den nächsten Tagen fallen. Klar ist: Carlo Chatrian geht als künstlerischer Direktor zur Berlinale. Die 70., 2020, wird seine erste. Die Carlo Chatrian und seine Berlinale-Co-Chefin Mariette Rissenbeek durch die für 2020 angekündigte Vorverlegung der „Oscar“-Verleihung vor eine sehr besondere Herausforderung stellt. Es bleibt spannend.

Die Preisträger von Locarno 2018

Concorso internazionale

Pardo d’oro (Goldener Leopard)

A LAND IMAGINED von YEO Siew Hua, Singapur/ Frankreich/ Niederlande

Premio speciale della giuria (Spezialpreis der Jury)

M von Yolande Zauberman, Frankreich

Pardo per la miglior regia (Preis für die beste Regie)

TARDE PARA MORIR JOVEN von Dominga Sotomayor, Chile/ Brasilien/ Argentinien/ Niederlande/ Katar

Pardo per la miglior interpretazione femminile (Pardo für die beste Darstellerin)

Andra Guți für ALICE T. von Radu Muntean, Rumänien / Frankreich / Schweiz


Pardo per la miglior interpretazione maschile (Pardo für den besten Darsteller)

KI Joobong für GANGBYUN HOTEL (Hotel by the River) von HONG Sangsoo, Südkorea

Concorso Cineasti del presente Pardo d’oro Cineasti del presente (Sektion Filmemacher der Gegenwart)

Pardo d’oro (Goldener Leopard)

CHAOS von Sara Fattahi, Österreich/ Syrien/ Libanon/ Katar

Premio per il miglior regista emergente – Città e Regione di Locarno (Preis für die beste Nachwuchsregie)

DEAD HORSE NEBULA von Tarık Aktaş, Türkei

First Feature
Swatch First Feature Award (Preis für den besten Debütfilm)

ALLES IST GUT von Eva Trobisch, Deutschland

Prix du Public UBS (Publikumspreis)

BLACKKKLANSMAN von Spike Lee, USA

Variety Piazza Grande Award

LE VENT TOURNE von Bettina Oberli, Schweiz/ Frankreich

Preis der ökumenischen Jury

SIBEL von Çağla Zencirci und Guillaume Giovanetti, Frankreich/ Deutschland/ Luxemburg/ Türkei

Premio FIPRESCI (Preis der internationalen Filmkritik)

SIBEL von Çağla Zencirci und Guillaume Giovanetti, Frankreich/ Deutschland/ Luxemburg/ Türkei

Premio della Giuria dei giovani (Preis der Jugendjury)

Erster Preis: A LAND IMAGINED von YEO Siew Hua, Singapur/ Frankreich/ Niederlande

Zweiter Preis: SIBEL von Çağla Zencirci und Guillaume Giovanetti, Frankreich/ Deutschland/ Luxemburg/ Türkei

Dritter Preis: GANGBYUN HOTEL (Hotel by the River) von HONG Sangsoo, Südkorea

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Tag 9

Endspurt ist angesagt. Und wie in Locarno üblich, liefen zum Ende des Wettbewerbs noch zwei sehr, sehr starke Filme. Es ist hier ja schon mehrfach vorgekommen, dass der letztgezeigte Film den Goldenen Leoparden gewonnen hat. Das wäre dann dieses Mal ein deutsche Spielfilm – „Wintermärchen“ von Jan Bonny. Verdient wäre ein Preis durchaus.

Jan Bonny hat den Mut zu kompromissloser Härte. Und dazu, nichts zu erklären oder zu werten. Das verstört gehörig. Schließlich geht es um drei junge Rechtsradikale, eine Frau und zwei Männer, die mordend durchs Land ziehen. Wer denkt da nicht an die NSU? Doch deren Historie wird nicht eins zu eins geschildert. Bonny beleuchtet Seelenzustände, zeigt ungeschminkt alle Brutalität, schockiert mit scheinbar teilnahmsloser Beobachtung. Aber das ist nur scheinbar so. Indem er das Böse klar und deutlich und ohne tröstliche Momente zeigt, bringt er denkende Zuschauer zur Reflexion, dazu, sich notwendige, auf den Zustand unserer Gesellschaft abzielende Fragen zu stellen.

Ganz anders, nicht minder eindringlich: „Das Hotel am Fluss“ aus Südkorea. Ein filmisches impressionistisches Gemälde. Regisseur Hong Sang-soo – er gewann 2015 den Goldenen Leopard mit „Right Now, Wrong Then“ – zeigt einen lebensmüden Vater, einen Dichter, und dessen zwei Söhne, ein Freundinnen-Paar als Gäste in einem Hotel. Ihre Wege kreuzen sich, ihre Gedanken auch. Ihre Gefühle finden allerdings nie zueinander, denn die althergebrachten gesellschaftlichen Konventionen verbieten es offenbar, sich anderen gegenüber ehrlich zu öffnen.

Das leise Kammerspiel reflektiert auf den ersten Blick nichts als kleine Defekte einzelner Leute, zeigt aber auf den zweiten eine Gesellschaft, die einige Defekte mit sich herumschleppt. Das Wort Liebe, auch wenn es „nur“ um Nächstenliebe geht, klingt hier immer wie Hohn. Ein bitterer Film, einer, der einen wieder mal demutsvoll erkennen lässt, was es heißt, in einem modernen, aufgeklärten Staat zu leben.

Zwei Favoriten also – und es gibt noch viele andere. Üblicherweise entscheiden Juroren ja gern entgegen allen Erwartungen. Mal sehen, wie das Leoparden-Rennen ausgeht. Viel wichtiger ist jedoch die Antwort auf die Frage: Kommen viele der hier gezeigten Filme in unsere Kinos? Wenn ja, wäre das ein Gewinn – und ist das Wichtigste.

Peter Claus

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Tag 8

Es gibt Spielfilme, die einen beunruhigen und genau deshalb nicht loslassen, die auch beim zweiten Sehen ganz unmittelbar wirken, einem sozusagen in den Bauch fahren. So ein Film ist „Alles ist gut“ von Autorin und Regisseurin Eva Trobisch, wunderbar in der Hauptrolle besetzt mit Aenne Schwarz.

Erzählt wird von einer jungen Frau, Janne. Gemeinsam mit ihrem Freund (Andreas Döhler) hat sie einen kleinen Verlag. Doch der wirft keinen Gewinn ab. Im Gegenteil. Und die Zweisamkeit, ist die ein Gewinn? Eine Frage, die nicht zu beantworten ist, weder von den Protagonisten, noch von den Zuschauern. Janne, selbstbewusst, klug, immer darauf aus, auch selbstbestimmt zu leben, wird von den Umständen gezwungen, Haltung zu beziehen. Was für sie selbstverständlich ist – auch dann, als sie nach einem Klassentreffen von einem Mann vergewaltigt wird. Was sie nicht raus schreit, worauf sie nicht mit etwa einem Gang zur Polizei reagiert. Janne, modern und emanzipiert, will sich auch davon nicht bestimmen, nicht zu irgendeiner Handlung drängen lassen. Sie schweigt. Schweigt im Grunde auch sich selbst gegenüber. Hat sie damit ihr Leben wirklich in der Hand? Hat sie sogar die Leben anderer in der Hand, indem sie – etwa als ihr neuer Chef in einem großen Verlag ein Eheproblem hat – über deren Dasein bestimmt? Am Ende steht sie mit dem Rücken zur Wand. Es bleibt nur Schweigen.

„Alles ist gut“ | © Trimaphilm, Goetze Trauer

Der mit stilistischer Strenge – in nicht einer Szene gibt es überflüssige Mätzchen! – und exzellentem Schauspiel wirklich packende Film läuft, neben 15 anderen Beiträgen, im Wettbewerb „Cineasti del presente“ („Filmemacher der Gegenwart“), wo vor allem Newcomer ihr Können zeigen.

Die Intensität des Films lässt einen das Gespräch mit der Regisseurin und der Hauptdarstellerin suchen. Was in Locarno schnell realisiert ist.

Eva Trobisch und Aenne Schwarz, beide, schon in München gefeiert und mit Preisen geehrt, wirken überaus geerdet, interessiert, ein Echo zu bekommen, sind diskussionsfreudig. Man möchte stundenlang mit ihnen reden, abwägen, streiten. Ein Privileg des Locarno-Besuchers: Man kann mit den Filmschöpfern in ihre Arbeit einsteigen. Ein erster Satz von Eva Trobisch, der aufhorchen lässt: „Für mich ist es eine spannende Beobachtung, dass Leute oft nicht aussprechen, was sie denken.“ Das zeigt sie im Film, ohne vordergründig zu werten. Da bleibt vieles unausgesprochen, hängen Sätze in der Luft. Eva Trobisch: „Mich interessiert filmästhetisch, dass man dem Zuschauer nicht alles erklärt, nicht alles vorgibt, dass nicht alles aufgeblättert wird.“ Auf die daraus folgende Frage stimmt sie einem lachend zu: „Ja, ich vertraue auf den denkenden Zuschauer.“

Der Film reflektiert Grundsätzliches: „Wenn wir lieben, können wir auch gleichzeitig hassen. Gefühle changieren ja sehr oft, sind nicht eindeutig zu fassen“, sinniert Eva Trobisch. Auf die Frage, was sie angetrieben hat, diese Geschichte so zu erzählen, kommt sie schnell auf Janne, die Hauptfigur: „Diese sehr selbstbestimmte, aufgeklärte Figur sagt, ‚Ich kann nicht entscheiden, was mir passiert, aber wie ich darauf regiere.’ – Mich hat interessiert, wo die Grenzen so einer Haltung liegen und was die Freiheiten sind. Mich interessiert, wie sich die Figur in dem System bewegt, in dem sie gefangen ist, also die äußeren Umstände.“

Ein Gesellschaftsporträt? Eva Trobisch: „Ich gehe nicht an die Arbeit und sage, ich mache jetzt mal ein Gesellschaftsporträt. Dabei kommen nur Stereotype heraus. Ich zeige eine individuelle Figur, ihre Geschichte, und hoffe natürlich, dass das dann auch die Gesellschaft spiegelt.“

Viele Zuschauer schockt naturgemäß die – übrigens sensibel gedrehte, in keiner Sekunde Effekt heischend anmutende – Vergewaltigungs-Szene. Die Für Eva Trobisch ein Baustein von vielen ist: „Für mich ist das nicht die Geschichte einer Vergewaltigung und deren Verdrängung. Ich erzähle von einer Reihe von Entscheidungen Jannes, die andere Menschen beeinflussen und Situationen, und die Janne am Ende dahin bringen, dass sie sich übernimmt. Die Haltung dieser Frau, in der Welt zu stehen, die interessiert mich.“

Ist der Film auch ein Reflex auf die MeToo-Bewegung? Eindeutig: nein. Eva Trobisch: „Der Film ist vor der MeToo-Debatte entstanden. Es ist kein Vergewaltigungs-Film, kein Themen- oder Thesenfilm.“ Und genau deshalb beeindruckt er so. Künstlerisch überhöht wird im Grunde Gewöhnliches erzählt, von Menschen wie Du und ich, die oft erst im Nachhinein, abends im Bett etwa, wissen, was sie am Morgen in einem Gespräch hätten sagen sollen, wie sie in diesem oder jenem Moment hätten reagieren müssen.

Als Zuschauer neigt man (auch wenn man’s besser weiß) dazu, Akteure und Rollen miteinander zu verwechseln. Das ist nun auch hier, bei Aenne Schwarz als Janne, so, spielt sie doch mit einer Innerlichkeit und Intensität, dass man gar nicht anders kann, als sich an ihre Seite zu stellen, sei es mitfühlend, aber auch kritisch. Steckt viel von Aenne Schwarz in Janne? Die Schauspielerin sagt: „Natürlich nehme ich mich mit rein in die Figur, aber ich bin das nicht. Ich habe ein Stück von mir mit in Janne hinein genommen, und ich bin auch Beobachterin geblieben. Das ist Beides miteinander verschmolzen. Ich habe beim Spiel nicht darüber nachgedacht, ob ich jetzt mehr auf die Figur gucke oder mehr in ihr drin bin. Es war eine sehr intensive Arbeit. Wir waren alle drin und haben alle drauf geschaut. Beim Drehen war das eine Einheit, eine sehr spannende Einheit.“

Als Zuschauer möchte man Janne gelegentlich schütteln, möchte sie zwingen, auszusprechen, was sie nicht aussprechen kann oder will. Was Aenne Schwarz beim Lesen des Drehbuchs und beim Spielen interessanterweise nicht so empfunden hat. Das heißt aber nicht, dass sie selbst so handeln und nicht-handeln würde: „Die Janne ist mir zugleich nah und fern. Sie hat eine andere Stimme als ich, eine andere Figur, ich persönlich bin viel agiler, bin aufgeregter. Janne ist sehr ruhig. Und trotzdem: Ich hab sie geliebt schon beim ersten Lesen des Drehbuchs. Ich war ganz bei ihr.“

Nach München nun also Locarno. Der Wettbewerb der „Cineasti del presente“ ist stark. Aenne Schwarz war vor einigen Jahren schon einmal in Locarno, als Mitglied des Schauspielensembles von „Vor der Morgenröte“. Unser kurzes Gespräch fand vor der ersten Publikumsvorführung von „Alles ist gut“ statt. Da war bei ihr vor allem Neugier auf die Reaktionen angesagt, auch schlichte Freude, mit dem Film in Locarno dabei sein zu können. Für Eva Trobisch bedeutet die Einladung ihres Spielfilm-Debüts zum Festival natürlich auch eine wichtige Station für ihre Laufbahn: „Es ist ein Wahnsinnsgeschenk, mit dem Film in Locarno sein zu dürfen. Der Film kriegt dadurch eine ganz andere Größe!“

Eine knappe 20-Minuten-Begegnung – gedankenreich und klug. Eine Freude für den Interviewer, schließlich ist es einfach schön (auch weil’s nicht immer so ist), zu erfahren, dass die Persönlichkeiten, die hinter einem Kunstwerk stehen dessen Klasse auch selbst haben.

Peter Claus

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Tag 7

Um sich vom Kino zu erholen, geht man während des Filmfestivals von Locarno traditionsgemäß ins Kino – in die Retrospektive. Sie ist in diesem Jahr dem Hollywood-Regisseur Leo McCarey (1898 – 1969) gewidmet. Einem größeren Publikum ist er kaum mehr bekannt, allenfalls noch durch das Melodram „An Affair to Remember“ (1957) mit Deborah Kerr und Cary Grant, das in „Sleepless in Seattle“ (1993) zitiert wird.

Die Arbeit von Leo McCarey wird bisher in der Filmgeschichtsschreibung selten ,dass er – von der Stummfilmzeit bis in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts – nicht allein als Routinier Aufmerksamkeit verdient. McCarey gehört zu jenen, die ein wesentliches Element der Komödie ausgefeilt haben: die mathematische Präzision. Seine guten Filme laufen wie perfekte Uhrwerke ab. Sie haben perfekte Längen und die Pausen sitzen an den richtigen Stellen. McCarey hat die Schauspieler nie zu überzogenen Äußerlichkeiten getrieben, sondern dazu, den Witz aus dem Ernst der jeweiligen Figuren zu entwickeln Er hat noch den groteskesten Geschichten mit Seitenblicken auf die Realität eine gewisse Tiefe gegeben, und es stets verstanden, Stürme der Gefühle nie ins Gefühlige abgleiten zu lassen. Was die Ökonomie des Erzählens betrifft, und die Möglichkeiten, aus den irrsten Situationen ein Gran Poesie zu ziehen, könnte für das Schaffen heutiger Regisseure durchaus lehrreich sein.

Da lief denn jetzt im Piazza-Programm gleich ein gutes Beispiel: „Geliebter Feind“ (Italien/ Schweiz) vom Schweizer Regisseur Denis Rabaglia. Eine Gaunerkomödie um einen ehrbaren Professor der Astrophysik und einen vermeintlichen Profikiller. Erster rettet Letzterem zufällig das Leben. Der Gerettete will seine Dankbarkeit damit zeigen, dass er den größten Feind des Intellektuellen umbringt. Was den aber in große Schwierigkeiten bringt.

Der Film hat zündende Szenen und einige pointierte Dialoge. Doch es fehlt genau das, was LeoMcCareys Komödien auszeichnet: Eleganz, Raffinesse, Tiefe. Was daran liegt, dass Rabaglia nicht unter die Oberfläche der Situationen schaut und auch nicht hinter das Äußere der Charaktere. Erst ganz am Schluss gibt es einen Moment, da das anders ist. Doch das kann den Film nicht mehr aus dem Niveau durchschnittlicher Unterhaltung heraus heben. Aber man ist ja schon froh, heutzutage mit einem gewissen Niveau amüsiert zu werden: ohne Gewalt, ohne, dass es unter die Gürtellinie geht, mit einem Anflug von Charme. Den haben hier die beiden Hauptdarsteller Diego Abatantuono und Antonio Folletto. Zwischen ihnen stimmt die Chemie. Sie wirken noch in den überdrehtesten Momenten glaubwürdig, offerieren auch leise Töne. Vor allem ihnen ist es zu danken, dass man den Film, auch wenn man ihn danach sofort vergisst, gern anschaut.

Peter Claus

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Tag 6

Sollte die Jury explizit nach politisch Gewichtigem Ausschau halten, hat sie’s schwer, ein gerechtes Urteil zu fällen. Der Wettbewerb um den Goldenen Leoparden wird von Filmen dominiert, die ihr Augenmerk auf politische Vorgänge und Gegebenheiten richten. Diesbezüglich herausragend: „M“ aus Frankreich, eine Dokumentation von Yolande Zauberman. Im Zentrum steht Menahem Lang, ein Multitalent, Mitte bis Ende 30, bekannt als Sänger und Schauspieler. Er stammt aus einer Gemeinschaft ultraorthodoxer Juden. Vor Jahren hat er die israelische Gesellschaft aufgerüttelt, weil er öffentlich gemacht hat, dass er schon als Kind mehrfach von Männern aus der Gemeinschaft sexuell missbraucht worden ist.

„M“ | © Cinema/Phobics

Zauberman hat ihn sozusagen als Führer durch die Welt seiner Kindheit und Jugend. Durch ihn lernt sie andere mit ähnlichen Schicksalen kennen, auch Männer, die andere gepeinigt haben. Es ist ihr in staunenswerter Intensität gelungen, ihre Partner vor Kamera und Mikrofon zum Reden zu bringen – und das ohne jeglichen Eifer, fern von Sensationsgier. Dadurch hat der Film tatsächlich die Chance, den offenbar sehr alten Treufelskreis zu durchbrechen, der Missbrauchte oft selbst zu Vergewaltigern gemacht hat. Beachtlich. Zauberman enthält sich jeder Wertung. Auch wenn sie den alltäglichen Umgang mit Sexualität beleuchtet, der in der Welt der ultraorthodoxen Juden ein anderer ist als etwa in den westeuropäischen Industrienationen, enthält sie sich einer Bewertung. Genau das macht „M“ stark, ja, erschütternd.

Verwirrend aber auch faszinierend: Der Spielfilm „Yara“ aus dem Libanon. Autor und Regisseur Abbas Fahdel schaut mit scheinbar staunenden Augen in die abgelegene, kaum mehr von Menschen bewohnte Welt in einem Bergtal im Norden des Landes. Hier lebt die jugendliche Yara (Michelle Wehbe) bei ihrer schon sehr betagten Großmutter in einem recht heruntergekommenen Gehöft. Ziegen, Hühner und Gemüseanbau prägen den Alltag. Aus dem Nichts taucht ein junger Mann auf, der davon träumt, nach Australien zu gehen. Yara und er erleben eine zärtliche Lovestory. Doch man ahnt es von Anfang an, dass ein happy end kaum möglich ist.

„Yara“ schaut angenehm unaufgeregt in eine Welt, deren Schönheit bezaubert. Doch hinter der Schönheit lauert nichts als Tristesse. Was vor allem daran liegt, dass kluge junge Leute das Land verlassen haben oder dabei sind, es zu verlassen, um anderswo ihr Glück zu suchen. Die berückenden Landschaftsaufnahmen in den schönsten Farben zeigen dies dadurch, dass sie immer auch eine gewisse Morbidität ausstrahlen. Überaus sensibel wird zudem gezeigt, wie schwer es eine frei und emanzipiert leben wollende junge Frau im Libanon hat, wenn sie sich nicht strikt an die Vorgaben der von männlichen Vorstellungen geprägten Traditionen hält. Abbas Fahdel braucht dazu keine Szenen, in denen die Handlung eskaliert. Er zeigt es, indem er andeutet, und indem er das Publikum eins und eins zusammenzählen lässt. Sicher: Dies ist kein Mainstream. Die Zuschauer brauchen Geduld. Und sie müssen Lust daran haben, sich in ferne Gefühlsströme fallen zu lassen. Wem’s gelingt, der hat ein starkes Kino-Erlebnis.

Peter Claus

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Tag 5

Der Sonntag wurde vom Schweizer Kino dominiert. Heiß erwartet: „Glaubenberg“ von Thomas Imbach, der eidgenössische Beitrag in der Konkurrenz um den Goldenen Leoparden. Imbach hatte mit seinem ersten langen Spielfilm, „Happiness is a Warm Gun“ Anfang der 2000er Jahre einen verdienten Sensationserfolg. Der beruhte insbesondere auf der ungewöhnlichen Erzählform, die vielleicht mit der Formel „wilder Impressionismus“ gefasst werden kann.

Nun also, nach einigen anderen Spielfilmen (dem Versuch auch, Dokumentarisches und Fiktionales zu koppeln) der Spielfilm „Glaubenberg“. In manchen Medien war der Film schon vor der ersten Vorführung leicht skandalisiert worden, behandele er doch angeblich das heikle Thema einer inzestuösen Liebe, von Sex zwischen Geschwistern. Nun, von Skandal kann nicht mal ansatzweise die Rede sein, nicht einmal von Geschwisterliebe. Tatsächlich wird die – laut einer Schrifteinblendung zu Filmbeginn auf Tatsachen beruhende – Story eines 16-Jährigen erzählt, die in ihren Bruder verliebt ist, von Sex mit ihm träumt, sich (gegen seinen Willen) bis zum geht-nicht-mehr in ihre Phantasie hineinsteigert.

„Glaubenberg“ | Frenetic Films

Ein interessanter Stoff. Doch leider hat Regisseur Imbach, der auch das Drehbuch mitgeschrieben hat, und für die Kamera, die Montage und das Casting verantwortlich zeichnet, das Thema nicht wirklich bändigen können. Die Verknüpfung verschiedener Zeitebenen (Erinnerungen spielen eine große Rolle) ist unelegant, das Miteinander von Erlebtem und Erträumtem der Hauptfigur holprig, die Kamera, ohne das es etwas zu entdecken gäbe, zu sehr und zu oft darauf aus, die Gesichter der Akteure vorzuführen, ohne sie dabei zu erkunden. Am Ende gar wird’s albern, wenn eine verquaste Überhöhung bemüht wird, um ein verschwommenes Finale einzuleiten, bei dem nicht klar ist, was Realität und was Imagination der Hauptfigur ist. Klar wird auch nicht, was Imbach eigentlich erzählen will. Geht es um die Erkundung eines Abgleitens in Wahn? Will er die Hilflosigkeit von Eltern und Erziehern zeigen, wenn es darum geht, einer oder einem Pubertierenden aus dem Schlamassel irrer Tagträume zu helfen? Geht es um Verantwortung füreinander? Geht es gar darum, das Bild einer Gesellschaft zu zeigen, die derart kleingeistig und verklemmt ist, dass sensible Individuen zwangsläufig ins Aus abgleiten müssen?

Filmkunst muss keine Antworten liefern auf die Fragen, die sie stellt. Doch sie sollte den Zuschauern die Möglichkeit geben, überhaupt rauszukriegen, um welche Fragen es überhaupt geht. Die Reaktion auf „Glaubenberg“ fiel gespalten aus: von Ablehnung über Hohn bis zu Zustimmung und Begeisterung. Man darf gespannt sein, ob die Jury den Film mit einem Preis bedenkt.

Um den Publikumspreis hat sich Bettina Oberlis „Der Wind dreht“ beworben, als Beitrag im Programm der Piazza Grande, außerhalb aller Wettbewerbe. Oberli hatte vor einem Dutzend Jahren einen d e r Schweizer Kino-Hits inszeniert, „Die Herbstzeitlosen“, eine charmante, wirklich witzig Komödie um ältere Damen, die dem Leben noch einmal allerlei Reiz abtrotzen. Das ist ein Feel-good-movie im besten Sinn. Nun ein Drama um ein Ehepaar, das sich schon seit 15 Jahren auf einem abgelegenen Bauernhof in alternativem, ökologisch bewussten Leben und Arbeiten versucht. Ein Ingenieur bricht in die traute Zweisamkeit ein. Sie verliebt sich in den Fremden und das Kartenhaus der Illusionen bricht in sich zusammen.

Der Stoff taugt zu großem Kino. Doch die Umsetzung geriet zu klein. Im ganzen Film gibt es nicht ein großes Bild. Die Emotionen werden behauptet. Unentwegt spürt man die Konstruktion der Story. Das führt rasch zu Langeweile. Bisher eine Ausnahme im diesjährigen Festival von Locarno. Es ist zu hoffen, dass es bei dieser einen Ausnahme bleibt.

Peter Claus

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Tag 4

Sie gehört zu Locarno, wie das Salz in die Suppe: Die Filmkunst, die sich nicht jedem erschließt, das Erzählen in üppigen, gern rätselhaften Bildern. Jedes Jahr finden sich dafür Beispiel im Wettbewerb, jedes Jahr vergeben die jeweiligen Juroren gern eine Ehrung an solches Kino. Der erste Film dieser Art in 2018 ist „Menocchio“, eine italienisch-rumänische Ko-Produktion, inszeniert von Alberto Fasulo.

Marcello Martini in der Titelrolle | © Nefertiti Film

Die Story führt ins späte 16. Jahrhundert, in eine Zeit, da die Institution Kirche ihre Macht mit aller Gewalt sicherte. Ein einfacher, dem Volksglaube verbundener Müller namens Menocchio setzt sich zur Wehr. Denn er glaubt ganz schlicht an Wahrheit und Würde, ist sich sicher, dass die Botschaft seines Herrn ihn in die Glückseligkeit führen und die Verirrten, die Machthaber des Klerus, seinem Beispiel folgen werden. Man ahnt, wie das ausgeht.

Die Story ist gar nicht das Entscheidende. Sie ist lediglich Aufhänger, um sich mit den Auswüchsen unmenschlicher Gewalt auseinanderzusetzen – und dabei ohne einen einzigen vordergründigen Verweis auf die Gegenwart zu blicken. Populisten sind nun mal keine Erscheinung, die es erst in der Moderne gibt.

So simpel das in der Nacherzählung und Beschreibung anmutet, so kunstvoll – und dabei stilsicher! – erzählt Alberto Fasulo. Visuell ist das ein einziger Genuss. Dabei gibt es keine spektakuläre Montage, keine wirklich überraschenden Perspektiven. Es ist die Anmutung fast heiterer Gelassenheit, es sind die Blicke auf kleine Details, die den Film zum Genuss machen.

Höhepunkt für alle, die auf Glanz und Glamour stehen, war natürlich die Verleihung eines Ehrenpreises, des „Leopard Club Award“ an Meg Ryan. Die jetzt 56-Jährige dankte mit einiger Portion Rührung, aber auch mit Selbstbewusstsein. Man kennt das. Der Jubel des Publikums allerdings war ungewöhnlich stark. Die Schauspielerin wurde geradezu mit Zuneigung überschüttet. Carlo Chatrian hat wohl Recht, als er sagte, dass sie sich mit einigen Szenen unvergessen ins kollektive Kino-Gedächtnis eingebrannt hat, als moderne Frau, die das alte Genre der romantischen Komödie aufpoliert hat. Und klar, wer erinnert sich nicht an den von ihr in „Harry und Sally“ am Restauranttisch simulierten Orgasmus?!

Peter Claus

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Tag 3

Regisseurin Sandra Nettelbeck hat „Was uns nicht umbringt“ vorgestellt, eine melancholisch grundierte Komödie, getragen von philosophisch angehauchten Dialogen – und, vor allem, geprägt von exzellenten Akteuren, etwa Barbara Auer, Johanna Ter Steege, August Zirner, Deborah Kaufmann, Bjarne Mädel. Ein Großteil der Crew hat die Autorin und Regisseurin nach Locarno begleitet. Der Film läuft open air, im Piazza-Programm, also außerhalb der Wettbewerbe, jedoch mit der Chance auf den Publikumspreis.

Barbara Auer und August Zirner in „Was uns nicht umbringt“ (© Mathias Bothor | Alamode Film)

Der Film biedert sich dem Publikum nicht an. Im Gegenteil. Es braucht Zeit und auch Geduld, sich hinein zu sehen und zu hören. Sperrig ist vielleicht kein schlechtes Attribut für den Reigen von Geschichten um Menschen im Abseits, miteinander verbunden durch ihre jeweilige Beziehung zu einem Psychotherapeuten (Zirner), der selbst einiges an Hilfe benötigt. Schönster Einfall des Films: immer wieder werden Wunschvorstellungen der Protagonisten kurz visualisiert, ehe dann wieder die oft graue Realität ihr schmutziges Haupt erheben darf. Interessanterweise kann man „Was uns nicht umbringt“ als eine Ergänzung zu Nettelbecks Debüt-Spielfilm „Unbeständig und kühl“ betrachten. Zeichnete sie damals eine Gruppe junger Leute, so beobachtet sie dieses Mal ähnliche Typen und Charaktere, nur eben um knapp ein Vierteljahrhundert gealtert, auch gereift. Schöner Kommentar von Sandra Nettelbeck zur ihrem Film auf der Pressekonferenz in Locarno: „Man darf nichts bereuen. Und dazu ist es nie zu spät.“

Im Wettbewerb sorgte die französisch-deutsch-luxemburgisch-türkische Gemeinschaftsproduktion „Sibel“ für einen Glanzpunkt. Das Regie-Duo Çagla Zencirci und Guillaume Giovanetti erzählt vom Schicksal einer jungen Frau namens Sibel in einem abgelegenen Bergdorf. Bedingt durch eine Erkrankung als Kind kann sie nicht sprechen. Sie verständigt sich mit einer althergebrachten Pfeif-Sprache, die außer ihrem Vater nur noch wenige in ihrer Umgebung verstehen. Die „Behinderung“ macht Sibel zur Außenseiterin. Doch sie will Anerkennung. Die erhofft sie dadurch zu erlangen, dass sie den angeblich in den Bergen hausenden Wolf erlegen will. Aber gibt es ihn wirklich? Im Wald trifft sie auf einen Deserteur. Sie hilft ihm, versorgt seine Wunden, bringt ihm essen. So etwas wie Liebe keimt auf. Doch die Beiden werden beobachtet – mit dramatischen Folgen…

Der Film fesselt als strenge Studie einer Frau, die sich energisch durchkämpfen muss, um überhaupt zu überleben, erst recht, um sich Achtung zu verschaffen, ihre Würde zu wahren. Dieser Kampf spiegelt sehr genau die Situation einer Gesellschaft zwischen Tradition und Moderne. Da braucht es keine erklärenden Dialoge. Die Bilder sind ungemein aussagekräftig. Dazu hat Hauptdarstellerin Damia Sönmez eine fesselnde Ausstrahlung. Allein mit ihrer Körpersprache kann sie schier endlos anmutende Geschichten von den Schwierigkeiten des Lebens erzählen. Faszinierend.

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Tag 2

Lachen gegen das Donnergrollen der Gegenwart hat Carlo Chatrian versprochen. Offenbar wird dieses Versprechen vor allem von den Filmen auf der Piazza Grande abends unterm Nachthimmel eingelöst. Im Hauptwettbewerb um den Goldenen Leoparden waren die ersten drei Beiträge zu sehen – und da gab’s nichts zu lachen, allenfalls mal kleine Schmunzel-Momente.

Das Trio der Spielfilme ist bemerkenswert: Sie eint, dass sie auf das Thema Familie, besonders die Beziehung von erwachsenen Kindern zu ihren Eltern, fokussieren. Dazu stimmen sie auch formal überein. Strenge Erzählungen sind angesagt. Die Filme sind den klassischen Formen verpflichtet und von großer Ruhe und Unaufgeregtheit dominiert.

Deutlich gesellschaftskritisch ist „Familienausflug“ (Taiwan/ Hongkong/ Singapur/ Malaysia) von Regisseur Ying Liang. Eine Regisseurin musste, weil als regimekritisch aufgefallen, ihre Heimat, die Volksrepublik China, verlassen. Mit Mann und Kind lebt sie in Taiwan. Ihre Mutter ist auf dem Festland zurückgeblieben. Als sie vor einer schweren Operation steht, plant die Familie ein Wiedersehen. Das muss gegen die Bürokratie organisiert werden. Die Mutter unternimmt eine von einer staatlich gelenkten Organisation organisierte Gruppenreise nach Taiwan, die Tochter mit Mann und Kind, richtet diverse „zufällige“ Treffen ein. Der Plan scheint problemlos aufzugehen.

A Family Tour (Taiwan Public Television Service | Potocol | Shine Pictures)

Doch hat die Überwachung ein groteskes Ausmaß. Von einem freien Wiedersehen kann nicht die Rede sein. Was naturgemäß nicht gerade entspannend wirkt. Dazu kommen Konflikte und Zerwürfnisse, die von allen Beteiligten lange „unterm Tisch gehalten wurden“. So unternehmen alle bei diesem „Familienausflug“ eine Reise zu sich selbst und spiegeln dabei konturenscharf die gesellschaftliche Realität in China. – Es sind die beiläufig eingefangenen Alltagsmomente, die den Film stark machen, die lakonische Spiegelung von Repression und Machtmissbrauch und damit auch von den Möglichkeiten und Grenzen, wenn es für den Einzelnen darum geht, seine Würde zu bewahren.

Weniger beeindruckte der chilenische Wettbewerbsbeitrag „Zu alt, um jung zu sterben“. Auch hier: Familienalltag, und das gleich mehrfach. Einige Paare, mit kleineren und größeren Kindern haben sich zusammen geschlossen. Es ist 1990. Die Diktatur ist endlich vorbei. Alle wollen „ganz normal“ leben. Doch wie geht das? Reicht es, sich regelmäßig zu treffen, gemeinsam zu feiern, um glücklich zu sein? Ist Toleranz das A und O?

Der Film handelt die Fragen vor allem an Momentaufnahmen des Lebens der Kinder ab. Ob 10, 11 oder 15, 16 Jahre oder schon älter: Sie alle wollen sich abnabeln von den Eltern. Was, wie überall und für jeden, leichter gedacht als getan ist.

Regisseurin Dominga Sotomayor sind bezwingende Szenen gelungen. Doch ihr Hang zu einer impressionistischen Aneinanderreihung dieser Szenen hat eine gewisse Oberflächlichkeit erzeugt. Als Zuschauer kommt man keiner der Figuren nah. Arg dabei: der Bilderbogen weist nicht über sich hinaus. Gesellschaftliche Zusammenhänge werden kaum erhellt. Da mutet vieles hübsch pittoresk an. Mitreißend ist das aber nicht.

Besonders spannend: „Diane“, das Spielfilm-Regie-Debüt des bisher als Dokumentarfilmer bekannten US-Amerikaners Kent Jones. Auch hier: eine kleine Story. Auch hier: Familienleben. Im Zentrum steht die nicht mehr ganz junge Diane, eine Frau mit einem erwachsenen Sohn, der den Drogen verfallen ist, mit einer großen Zahl von Verwandten, von denen jede und jeder in der Regel Hilfe braucht. Und sie hilft gern, ja, sie lebt allein dadurch, dass sie sich für andere aufopfert. Das ist nun mal ihre einzige Möglichkeit, der drückenden Einsamkeit zu entfliehen. Und bei all ihren Fluchten – ins Krankenhaus zu einer sterbenden Verwandten, in den Familien- und Freundeskreis, zu ihrem Sohn, in eine Armenküche, wo sie Essen austeilt, auch mal in eine Kneipe – sind wir Zuschauer dabei. Und uns, die wir von außen gucken, ist lange vor der Figur klar, dass wir ihrem Verglühen beiwohnen.

Mary Kay Place als Diane | © visitfilms.com

Schon das packt, vor allem auch weil Hauptdarstellerin Mary Kay Place (die schon in vielen großen Filmen, wie „New York, New York“ oder „The Big Chill“ in Nebenrollen brilliert hat) eine so fesselnde wie anrührende Charakterstudie gelingt. Dazu kommt, dass es Kent Jones, der auch das Drehbuch geschrieben hat, gelingt, wie nebenbei, gesellschaftliche Realität einzufangen, sei’s im Supermarkt oder in häuslichen Situationen, im Krankenhaus oder in einer Kneipe. Ohne vordergründige Fingerzeige wird Vereinsamung als ein wesentliches Problem der ganz auf Erfolg und Profit ausgerichteten kapitalistischen Gesellschaft beleuchtet. Sehr erhellend. Und von den erste drei Wettbewerbsfilmen der, dem man unbedingt Beachtung durch die Juroren wünscht.

Peter Claus

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Tag 1

Zum Auftakt gab’s, so schien’s zunächst, Tamtam: die Schweizer Nationalhymne auf einer Elektroharfe. Eine Verbeugung vor dem Nationalfeiertag der Eidgenossen. Der fiel in diesem Jahr mit dem Tag der Festivaleröffnung zusammen. Marco Solari, der administrative Direktor des Festivals, hielt den auch eine flammende Rede zum hohen Gut der Freiheit. Und beschwor das Festival als einer der Garanten für, „ein Festival der Freiheit, des freien Denkens“. Der Applaus der 6000 auf der Piazza Grande von Locarno war entsprechend stark.

Zur filmischen Eröffnung dann war Lachen angesagt: Vor dem als Uraufführung präsentierten französischen Spielfilm „Teamgeist“ (Regie: Vianney Lebasque) lief der 1929 von Leo McCarey (1998 – 1969) inszenierte Kurzfilm „Liberty“ mit Stan Laurel und Oliver Hardy aus dem Jahr 1929. Womit zum einen die McCarey gewidmete Retro zu ihrem Recht kam, zum anderen die diesjährige Stoßrichtung des scheidenden künstlerischen Leiters Carlo Chatrian untermauert wurde: Lachen ist angesagt, mindestens schmunzeln. Damit will Chatrian, einer der Kosslick-Nachfolger an der Berlinale, wider das allgegenwärtige „Donnergrollen der Gegenwart“ angehen. Letztlich heißt das: Auch in diesem Jahr wird die Locarno-Tradition gewahrt: Anspruchsvolle Unterhaltung dominiert, gepaart mit Anspruch – also Kunst und Kommerz in kluger Balance. Freilich, auch Zumutungen sind wieder angesagt. Mit „La flor“ („Die Blüte“) wird der mit etwa 14 Stunden Dauer längste Kinospielfilm aller Zeiten im Wettbewerb laufen. Fortgeführt wird auch die seit den 1970-er Jahren gepflegte Förderung noch unbekannter Künstler.

Hier haben ja so einige internationale Karrieren von später dann weltbekannten Regisseuren begonnen, etwa die der Coen-Brüder („Barton Fink“), Andrej Tarkowski („Stalker“), Atom Egoyan („Das süße Jenseits“), Woody Allen („Blue Jasmin“). Damit hat sich Locarno den Ruf des nach Berlin, Cannes und Venedig weltweit wichtigsten Filmfestivals erworben. Auch für die deutsche Regisseurin Sandra Nettelbeck war Locarno eine entscheidende Station auf dem Weg des Erfolgs. 2001 hat sie hier ihre Komödie „Bella Martha“ gezeigt. Der Film ging um die Welt. Sechs Jahre später hat Hollywood gar ein Remake des Hits mit Catherine Zeta -Jones und Aaron Eckhart unter dem Titel „Rezept zum Verlieben“ herausgebracht. Und Sandra Nettelbeck wurde anschließend als Regisseurin von US-amerikanischen Produzenten verpflichtet, 2009 für „Helen“ (mit Ashley Judd) und 2013 für „Mr. Morgans letzte Liebe“ (mit Michael Caine).

Bei der heute beginnenden 71. Ausgabe des Festivals am Schweizer Ufer des Lago Maggiore stellt Sandra Nettelbeck ihren neuen, dieses Mal wieder in Deutschland realisierten Spielfilm vor: „Was uns nicht umbringt“. Versprochen wird eine nachdenkliche Komödie der feinen Art um die Probleme eines schon etwas in die Jahre gekommenen Psychotherapeuten. Die Besetzung mit Könnern wie Johanna Ter Steege, Barbara Auer, Sophie Rois und August Zirner verspricht auf jeden Fall exzellentes Schauspiel.

„Was uns nicht umbringt“ von Sandra Nettelbeck | Bild: Sommerhaus Filmproduktion

Da der Film außerhalb aller Wettbewerbe läuft, nimmt er nicht am Rennen um die Auszeichnungen teil, die von mehreren Fachjurys vergeben werden. Allerdings kann „Was uns nicht umbringt“ die begehrte Ehrung der zahlenmäßig größten Jury in Locarno bekommen, nämlich den Zuschauerpreis. Er geht jeweils an einen außerhalb aller Wettbewerbe ­– abends unterm Sternenzelt auf der Piazza Grande gezeigten – Film. Über den Preis stimmen die Besucher ab. Bei gutem Wetter sind das weit mehr als achttausend. Diese Open-Air-Galas sind traditionsgemäß der Clou des Festivals. Vor allem ihretwegen belagern Filmfans aus aller Welt die Hotels, Pensionen, Ferienwohnungen und Zeltplätze. Und die harren dann sogar bei Regen aus.

Auch die Wettbewerbsvorführungen sind in der Regel gut besucht. Im Hauptwettbewerb konkurrieren in diesem Jahr 15 Filme aus aller Welt. Deutschland ist ein Mal vertreten. Regisseur Jan Bonny, bekannt geworden 2007 durch das Familiendrama „Gegenüber“ mit Matthias Brandt, bewirbt sich mit „Wintermärchen“ um den Goldenen Leopard. Harte Kost ist zu erwarten. Denn geschildert wird das Leben von drei jungen deutschen Rechtsradikalen, die mit Morden und anderen Gewalttaten Angst und Schrecken verbreiten. Sollte Jan Bonny wie in „Gegenüber“ Story und Stil überaus wirkungsvoll miteinander verbinden, dürften seine Chancen auf einen Preis hoch sein. Jurys lieben kunstsinniges Kino.

Carlo Chatrian hat Jurys und Publikum als künstlerischer Leiter immer gut bedient, sechs Mal nun. Er, zunächst bekannt geworden als Filmkritiker und Kurator verschiedener Reihen auf einigen Festivals, hat dem Festival in seiner Zeit zu Aufwind verholfen, auch, weil er es verschlankt hat. Das wohl auch hat ihm jüngst den Ruf nach Berlin eingebracht: An der Seite von Mariette Rissenbeek, derzeit Geschäftsführerin bei German Films, der Auslandsvertretung des deutschen Films, wird er nach der nächste Berlinale im Februar 2019 die Nachfolge von Dieter Kosslick als deren künstlerischer Leiter antreten. Das Festival von Locarno prägt Chatrian also mit der aktuelle Ausgabe zum letzten Mal. Als Abschiedsgeschenk hat er, wie schon angedeutet, einen besonders leichten, gar leichtfüßigen Jahrgang versprochen. Es soll viel zu lachen geben. Was ja im deutschen Kino Seltenheitswert besitzt. „Alles ist gut“, das Spielfilm-Debüt von Eva Trobisch als Regisseurin, steht jedenfalls nicht dafür. Der Film läuft in der für den Nachwuchs reservierten Sektion „Cineasti del presente“ („Filmemacher der Gegenwart“). Lakonisch beleuchtet Eva Trobisch das Leben einer jungen Frau, die mit sich und der Welt nicht klar kommt. Auslöser für eine tiefe Krise ist eine Vergewaltigung, die von der Protagonistin nicht verarbeitet, nicht einmal öffentlich gemacht wird. Doch ihr Glaube, Verdrängung könne alle Wunden heilen, führt in eine Katastrophe. Beim Münchner Filmfest in Juni gab es bereits Auszeichnungen für die Regisseurin und für ihre Hauptdarstellerin Aenne Schwarz. Gut möglich, dass der Film auch in Locarno abräumt.

Wobei „Teamgeist“ nicht gerade zu den Perlen der Filmkunst gehört. Das ist routinierte Unterhaltung, ein Feel-Good-Movie, geschickt inszeniert, gut gespielt, aber ohne Nachwirkung. Man hofft, dass das folgende Festivalprogramm bei allem versprochenen Humor doch auch Tiefe hat, mehr Tiefe als „Teamgeist“.

Peter Claus