Tag vier:

Manchmal gibt es auf Filmfestivals den einen ganz besonderen Film, den, der viele der Kritiker und den Großteil des Publikums in einen regelrechten Wonnetaumel versetzt. Manchmal. In Saarbrücken gab es in diesem Jahr so einen im Wettbewerb der abendfüllenden Spielfilme: „Stern“. Nach der ersten Aufführung am Mittwoch machten Hymnen die Flüster-Runde. Die letzten Karten für die nachfolgenden Vorstellungen waren im schnell ausverkauft. Und es wird erzählt, dass sich mehrere Verleiher nach der Aufführung um die Rechte bemüht haben sollen, einer allerdings schon während der Vorstellung zugeschlagen und für sein Unternehmen die Vertriebsrechte erworben hat. Klar also: Der Film wird in absehbarer Zeit in Deutschland im regulären Kinoprogramm auftauchen. Er sei mit außerordentlichem Nachdruck empfohlen!

„Stern“ ist eine Hommage an das Leben und die Lebenslust an sich. Dabei beginnt der Film mit dem Satz „Ich will sterben!“ Dies sagt eine offenkundig hoch betagte Berlinerin zu ihrem Hausarzt. Ihr neunzigster Geburtstag steht kurz bevor, sie ist geistig fit, körperlich ebenso, hat ein angenehmes familiäres Umfeld und gute Freunde. Dennoch: Sie möchte nicht mehr. Der Grund dafür ist so simpel wie nachvollziehbar. Frau Stern (Ahuva Sommerfeld) möchte würdevoll aus dem Leben gehen, sie will bestimmen, wann es soweit ist. Was die Menschen um sie herum nicht akzeptieren können. Insbesondere ihre Enkelin (Kara Schröder) ist entsetzt. Weshalb sie einigen Wirbel veranstaltet, um den vermeintlich sinkenden Lebenswillen ihrer Großmutter anzuheizen. Was die wiederum in einen Taumel meist recht skurriler Erlebnisse verstrickt. Aber auch die alte Dame selbst sorgt mit ihren Einfällen für Trubel. So betätigt sie sich aus lauter Übermut als Ladendiebin, macht ihrem jungen Friseur und Drogenlieferanten klar, dass sie sexuelle Bedürfnisse hat und versucht, sich eine Pistole zu beschaffen, damit sie ihren Plan zum Suizid umsetzen kann. Schließlich begegnet sie ja auch schon gelegentlich dem Tod in Persona, der keinesfalls ein Sensenmann ist, sondern eine schöne junge Frau in einem weißen Mantel. Doch selbst mit Knarre in der Hand ist es gar nicht so einfach, sich mal eben schnell aus der Welt zu verbabschieden …

Völlig frei finanziert, hat Autor und Regisseur Anatol Schuster sein Spielfilm-Debüt mit kleinstem Team und größter Phantasie realisiert. Im Zentrum steht seine grandiose Hauptdarstellerin Ahuva Sommerfeld, eine Frau ohne Schauspielausbildung, aber gesegnet mit viel Talent und noch mehr Charisma. Von Schuster klug geführt, wirkt sie vollkommen authentisch. Mit praller Energie reißt sie wohl jede und jeden im Publikum mit. Sentimentalität hat dabei keine Chance. Und selbst Schlimmstes – die Filmfigur Frau Stern hat ihre Familie im Holocaust verloren – wird leise verhandelt. Im Nachgespräch wurde betont, dass die Biografien der Filmfigur und ihrer Darstellerin nicht identisch seien. Aber man hat doch den Eindruck, dass vieles im Spiel aus wirklichen Erfahrungen Ahuva Sommerfelds gespeist worden ist. Höhepunkt ist eine Szene, in der sie George Gershwins berühmten Song „Summertime“ anstimmt. Herzergreifender kann Kino kaum sein! Interessant ist, dass viele Szenen improvisiert anmuten. Doch es wurde, so Anatol Schuster, nach einem festen Drehbuch gearbeitet. Beachtlich. Man meint, mitten durch den Berliner Alltag zu lustwandeln. Dabei, klar, eckt man hier und da auch mal an. Dies ist kein geschliffenes, durchgestyltes Entertainment à la Traumfabrik. Dafür punktet „Stern“ mit Originalität und Wahrhaftigkeit. Es ist kaum vorstellbar, dass die Juroren an diesem Juwel vorbei entscheiden!

Peter Claus

Bild oben: „Frau Stern will sterben. Doch das Leben lässt sie nicht los…“ |Stern | Regie: Anatol Schuster

Quelle: http://www.anatolschuster.de/stern.htm

__________

<p><strong>Tag drei:</strong></p>
<p>Erfreuliche Entdeckung im Spielfilm-Wettbewerb: Die jungen Filmemacherinnen und Filmemacher versuchen nahezu alle, formal nicht auf ausgetretenen Pfaden zu wandeln. Selbst wenn klassische Genres bedient werden, versuchen sie sich an Neuem. Vor allem fällt eine Freude am langsamen, gediegenen Erzählen auf. Fern sind schnitt-technische Eskapaden, oft dezent ist der Musikeinsatz. Dabei gehen nicht immer alle Kino-Träume auf. Was vor allem daran liegt, dass viele Ideen allenfalls einen Kurzfilm tragen, nicht jedoch einen abendfüllenden Spielfilm. Dennoch machen diese Gehversuche des Nachwuchses Mut. Denn sie schwelgen in gestalterischer Lust.</p>
<p>Da ist zum Beispiel „Das letzte Land“ von Autor und Regisseur Marcel Barion, verantwortlich auch für Kamera und Montage. Man sieht seinem Film durchaus an, dass Marcel Barion Erfahrungen im Bereich der Werbung hat: Die Bilder sind ausgefeilt, clever auf Wirkung bedacht, der Sound dient effektsicher der Rhythmisierung. Man darf den Film vielleicht als eine Hommage an Alfonos Cuaróns „Gravity“ deuten. „Das letzte Land“ ist mit dem Etikett „Science Fiction“ nur unzulänglich gekennzeichnet. Erzählt wird eine in einer unbestimmten Zeit liegende Geschichte. Ein aus Gefangenschaft geflohener junger Mann und ein ihn verfolgender Bewacher treffen in unwirtlicher Landschaft in einem schrottreif anmutenden Raumfahrzeug aufeinander. Sie fliehen den gruseligen Ort, der irgendwo auf irgendeinem Planeten ist. Die Erde, der blaue Planet, taucht nur in ihren Dialogen auf – als Traum des einen. Für den anderen sind die Erzählungen von der Erde nichts als ein Märchen, ein Hirngespinst. Die zwei düsen durch das All und erreichen schließlich einen goldenen Planeten, vermutlich einen, der aus nichts als Gas besteht. Paradies oder Hölle? Das Finale sei nicht verraten.</p>
<p>Marcel Barion bietet ein dichtes Kammerspiel. Seine zwei Akteure, Torben Föllmer und Milan Pešl, zeigen Archetypen von Menschen auf der Flucht, und das ohne vordergründig darauf zu verweisen. Man kann den Film als Kammerspiel voller psychologischer Action sehen, kann ihm aber auch als Parabel auf die großen Fluchten in der Welt unserer Tage deuten.</p>
<p>Ähnliches will wohl auch Regisseurin Carolina Hellsgård mit ihrer Zombie-Ballade „Endzeit“. Leider verheddert sie sich über eine lange Passage in einem Zuviel an aufdringlich-aufklärenden Dialogsätzen über die „Bestie“ Mensch. Da fühlt man sich als Zuschauer arg belehrt und steigt aus. Trotzdem: Auch ihr Film zeugt vom Willen, besondere Kost zu bieten. Und die Story hat es durchaus in sich: Ein Virus rottet die Menschheit aus, verwandelt jede und jeden in einen Zombie. Nur in Weimar und in Jena gibt es noch vermeintlich gesundes menschliches Leben, abgeschirmt hinter Zäunen und Stacheldraht. Zwei junge Frauen versuchen, aus unterschiedlichen Motiven, von Weimar nach Jena zu gelangen – und erreichen im Niemandsland zwischen den beiden Städten tatsächlich den Vorhof zur Hölle. Gut gespielt, fotografiert, montiert, hat die Erzählung eine starke Spannung. Wäre da nur nicht die zu sehr ausgestellte Suche nach Bedeutung. Weniger wäre mehr gewesen.</p>
<p>Debütant Peter Evers hat das in „A Gschicht über d’Lieb“ beachtet. Was seiner Ballade aus den 1950-er Jahren eine packende Intensität gibt. Im Zentrum steht eine Geschwisterliebe, die von Maria und Gregor. Der Bauernsohn will den Hof des Vaters nicht übernehmen. Er hat eine ganz andere Vision. Die jedoch der Vater nur dann unterstützt, wenn Maria durch Heirat für den Fortbestand des Besitzes sorgt. Was die Liebenden scheinbar ausweglos in eine Katastrophe stürzt …</p>
<p>Exzellente Schauspielführung – das Geschwisterpaar wird von Svenja Jung und Merlin Rose nuancenreich verkörpert – und eine achtsam-bedachte Inszenierung zeichnen den Film aus. Zum Finale wird es pathetisch. Was auf dem Festival zu heftigen Diskussionen geführt hat: Kitsch oder Nicht-Kitsch, das ist die Frage. Wobei gar nicht wichtig ist, wie einzelne Zuschauer diese Frage beantworten. Entscheidender ist, dass man sich dem Reiz des Films nicht entziehen kann und emotional aufgewühlt aus dem Kino geht. Was daran liegt, dass man sich positionieren muss – für oder wider die Liebenden. Es handelt sich also um Kino im besten Sinne, nämlich solches, dass einen im Herzen bewegt und damit zur Bewegung der Gedanken zwingt. Die Jury hat die Qual der Wahl.</p>
<p><em>Peter Claus</em></p>
<p>_________</p>
<p><strong>Tag zwei:</strong></p>
<p>Das Schöne an einem Festival wie diesem sind die Begegnungen. Iris Berben getroffen. Eine kluge, nachdenkliche, unprätentiöse Frau kennen gelernt. Nichts da mit Star-Allüren. Sie hört zu, wägt ab, ist meinungsfreudig. So kurz das Gespräch war, so beeindruckend war es auch.</p>
<p>Von allen Filmen des Tages lässt sich das nicht sagen, weder was die Kürze angeht, noch das Beeindrucken. Im Dokumentarfilmwettbewerb war ein Highlight dabei: „Macht das alles einen Sinn? – Und wenn ja – Warum dauert es so lange?“. Der jetzt vierundvierzig Jahre alte Berliner Andreas Wilcke zeigt hier die letzte Zeit des Regisseurs Frank Castorf als Intendant an der Berliner Volksbühne. Die Kamera ist immer hautnah dabei – bei Proben, während Aufführungen hinter den Kulissen, in der Kantine.</p>
<p>Es gibt keine Interviewsequenzen, keinen Off-Kommentar. Die üppigen Tableaus sprechen für sich selbst. Klug arrangiert von Wilcke (der auch Autor und Produzent ist) und seinem Cutter Steffen Bartneck entwickelt der Film einen starken Sog. Selbst der, der nie zu Castorfs Zeiten in dem berühmten Berliner Theater war, kann die Ära erspüren. Wilcke, der sich am Ende mit schönem Selbstbewusstsein ein bewusst pathetisches Adieu leistet, baut (wie wohltuend) auf die Intelligenz der Zuschauer. Die haben in diesem Jahr zum ersten Mal in der Geschichte des Festivals in Saarbrücken die Chance, einen Publikumspreis an einen Dokumentarfilm zu vergeben. Schwer vorstellbar, dass in dieser Wettbewerbs-Sektion bis zum Festivalende noch Stärkeres zu sehen ist.</p>
<p>Im Spielfilm-Wettbewerb ragte an diesem Tag ein Film aus der Fülle des Angebots heraus: „Der Läufer“ vom Schweizer Autor und Regisseur Hannes Baumgartner. Angeregt von wirklichen Ereignissen, erzählt er die Geschichte eines jungen Mannes, der in den Wahn abdriftet, schließlich zum Gewaltverbrecher wird. Eine problematische Kindheit, obendrein der Suizid des Bruders, könnten die Figur dazu gemacht haben. Könnten. Der Film legt sich diesbezüglich nicht fest, sucht nicht nach schnellen Entschuldigungen für Nicht-Entschuldbares. Spannend ist, wie suggestiv das Abdriften einer Persönlichkeit in eine Schattenwelt beleuchtet wird. Daran hat auch Hauptdarsteller Max Hubacher seinen Anteil, im Vorjahr war er erfolgreich in „Der Hauptmann“. Er beeindruckt mit klarer, dabei vielsagender Körperlichkeit, braucht keine extrem lauten Momente, um eine differenzierte Charakterstudie zu gestalten. Der Regisseur hat aus dem Schauspieler das Beste herausgeholt. Wie überhaupt die gute Schauspiel-Führung auffällt: Baumgartner hat offenbar ein großes Talent dazu.</p>
<p>Ansonsten gab es durchaus Bemerkenswertes, keine extremen Ausrutscher nach unten, aber doch eher Angebote an Ideen und Geschichten, die allenfalls für einen Kurzfilm taugen, auf Spielfilmlänge gezogen jedoch zu bemüht anmuten. Zur Erholung dann also in die Hommage an Iris Berben. „Miss Sixty“ aus dem Jahr 2014, das Regie-Debüt von Sigrid Hoerner. Iris Berben spielt eine Frau von 60 Jahren, die noch einmal die Sexualität für sich entdeckt – und genießt. Die Kritiken fielen seinerzeit nach der Premiere gemischt aus. Hier, in Saarbrücken, im durchaus durchwachsenen Festival-Angebot, wurde er mit seiner Leichtigkeit, die den Ernst der Auseinandersetzung mit dem Thema Altern keineswegs übertüncht, als schönster Kintopp gefeiert. Iris Berben bei der Präsentation erlebend hat man sich die Frage gestellt, ob es in der jungen Schauspielerinnen-Generation Nachfolgerinnen ihres Formats gibt. Paula Beer fällt einem ein. Aber sonst? Am Samstag gibt es hier auch Preise für den schauspielerischen Nachwuchs. Wer weiß?!</p>
<p><em>Peter Claus</em></p>
<p>_________</p>
<p><strong>Tag eins:</strong></p>
<p>Der Eröffnungsabend der Jubiläumsausgabe des Festivals wurde eindeutig von Iris Berben geprägt. Sie hat den seit einigen Jahren vergebenen Ehrenpreis erhalten. Und sie hat sich gefreut wie nichts. Sie sprudelte geradezu über vor Glück. Und das hat sich auf die mehr als 1300 Besucher der Gala sofort übertragen. Reine Jubelstimmung also. Die doch auch ernsthafte Momente hatte. Bundesaußenminister Heiko Maas, einer der Laudatoren, hatte nicht zufällig aus einem Interview der Schauspielerin zitiert: „Der Preis der Demokratie ist Arbeit!“ Und sie hat in ihrer Dankesrede den Filmnachwuchs, der in Saarbrücken das Sagen hat, dazu aufgefordert, die Filmkunst für ernsthafte, provozierende, anregende Auseinandersetzungen mit der Wirklichkeit zu nutzen. Der Zuspruch des Publikums war enorm. Standing Ovations!</p>
<p>Zur Eröffnung gab’s die Uraufführung eines Spielfilms, der dem von Iris Berben skizzierten Anspruch exzellent genügt: „Das Ende der Wahrheit“ von Autor und Regisseur Philipp Leinemann. Geboten wird ein handfester Polit-Thriller.</p>
<p>Der Geschichte voran gestellt ist eine Zitat von Leo Trotzki: „Vielleicht kann ich die Wahrheit finden, indem ich die Lügen vergleiche.“ Es passt hundertprozentig auf das, was folgt. Die rasante Story dreht sich um einen deutschen Geheimdienstmannes, der in einen mörderischen Strudel aus Lügen und Verrat, Gewalt und Korruption, Machtmissbrauch und persönliches Zweifeln gerät. Großes Kino. Der Unterhaltungswert ist enorm. Das Beste aber: Der Film, der die Schattenseiten der Verquickung von Politik, Wirtschaft und Geheimdiensten zeigt, stellt dabei einige brisante Fragen nach der Verantwortung der Regierenden für eine ehrliche, den Menschen tatsächlich dienende Staatsführung. Schauspieler und Schauspielerinnen wie Roland Zehrfeld, Claudia Michelsen und Alexander Fehling tragen den Anspruch nicht vor sich her. Die wichtigen Fragen, die der Film stellt, servieren sie sozusagen nebenbei, jedoch so, dass sie nicht zu übersehen und nicht zu überhören sind. Eine gute Wahl zur Eröffnung eines Festivals, das junge Filmschaffende fördern möchte, ihnen dabei auch Mut machen will, mit ihrer Kunst dazu beizutragen, die Welt ein bisschen genauer zu erkennen.</p>
<p>Nun gehört Philipp Leinemann nicht mehr zum Nachwuchs; der Film lief außerhalb der Konkurrenz. Sein Beispiel – er hat schon mit anderen Arbeiten, etwa „Wir waren Könige“ (2014), gelungene Kino-Kunst dieser Art geboten – sollte Schule machen. Da passt sein Film denn auch gut als, sozusagen, Flaggschiff dieses Festivals.</p>
<p>Siebzehn Preise werden am Ende des Festivals insgesamt vergeben werden, die wichtigsten im Hauptwettbewerb der Spielfilme, dem traditionsgemäß die größte Aufmerksamkeit gilt. Der Katalog verspricht stilistische und inhaltliche Vielfalt. Das reicht vom originellen Heimatfilm, der auf die bundesdeutsche Wirklichkeit der 1950er Jahre schaut („A Geschicht über d’ Lieb“), über das ungewöhnliche Familiendrama („Der Geburtstag“), eine surreale Identitätssuche („Electric Girl“) bis zum Zombie-Schocker („Endzeit“). Die fünfköpfige Jury dürfte es erfreulicherweise nicht leicht haben. Dabei ist der bekannte Regisseur Andreas Kleinert („Wege in die Nacht“). Er betonte auf der Eröffnungsgala den unschätzbaren Wert dieses Festivals in einer Kinolandschaft, in der es Feines wie etwa die Arthouse-Produktionen, immer schwerer haben. Recht hat er. Auch da leistet das Festival um den Max Ophüls Preis wirksame Schützenhilfe.</p>
<p><em>Peter Claus</em></p>

_________