Große Kunst

Wie immer, so gibt es sie auch diesmal, die Kolleginnen und Kollegen, die in den Feuilletons greinen, es gäb’ nichts zu entdecken auf dem gerade laufenden wichtigen Filmfestival. Das schreiben sie regelmäßig – in Berlin, Cannes, Locarno, Toronto und  nun auch in Venedig. Sicher: Auch dieses Festival hat etwas von einem Gemischwarenladen. Es gibt Ausschuss und es gibt gute Ware. Und ab und an gibt es sogar große Kunst.

Die aus dem Iran stammende, in Paris lebende Marjane Satrapi und ihr Kollege Vincent Paronnaud, die vor gar nicht so vielen Jahren mit dem Animationsfilm „Persepolis“ einen berechtigt großen Erfolg hatten, schicken „Pulet aux Prunes“ (Huhn mit Pflaumen) ins Rennen. Basierend auf einem Comicbook von Marjane Satrapi, die seit ihrer Kindheit in Frankreich lebt, erzählen die Beiden ein Märchen für Erwachsene. Da beschließt ein begnadeter Geiger 1958 in Teheran zu sterben. Er setzt den Beschluss tatsächlich in die Tat um. Seine letzten acht Tage werden in einem bezaubernden Bilderbuch aufgeblättert – und damit seine Lebensgeschichte, die vor allem eine Leidensgeschichte ist. Nasser Ali Khan (Mathieu Amalric) leidet an seinem Anspruch an die eigene Kunst, an der (unerfüllten) Liebe und, insbesondere, an sich selbst. Ein düsteres Märchen? Mitnichten. Heiterkeit bestimmt den Ton der Erzählung. Die erinnert im Stil übrigens an die Kunstmärchen von Hans Christian Andersen, es ist, als wäre dessen Schriftsprache in die des Kinos übersetzt worden. Schauspiel und Animation sind organisch miteinander verwoben. Das Schönste: Man kann den Film als reines Märchen gucken. Man kann aber auch darüber hinaus, zwischen den Bildern und zwischen den Worten, viel Nachdenkenswertes entdecken – über die Rolle der Frau in der iranischen Gesellschaft beispielsweise. Neben dem auf angenehmste Weise skurrilen Mathieu Amalric brillieren Stars wie Maria De Medeiros, Golshifteh Farahani, Chiara Mastroianni und Isabella Rossellini in Schlüsselrollen und machen den Film zu einem wahrlich besonderen Erlebnis.

Sehr besonders auch: „Wilde Salome“ von Al Pacino. Der Schauspieler und Regisseur bietet in seinem dokumentarischen Essay eine profunde Auseinandersetzung mit Oscar Wildes „Salome“ und mit dem Leben von Wilde selbst. Zu sehen sind Ausschnitte aus einer Inszenierung des Stückes in Los Angeles, es gibt Szenen aus einer Verfilmung des Stoffes und es gibt die Beobachtungen beim Erarbeiten von Beidem, der Bühnen- und der Filmversion. Das liest sich kompliziert, ist aber von Al Pacino klug verbunden worden. Sein Nachsinnen über mögliche Wirkungen von Wildes Hinterlassenschaft in unseren Tagen, über Möglichkeiten und Grenzen der Schauspielkunst und über sich selbst reift zu einer vielschichtigen, spannenden und, auf Grund von Al Pacinos Selbstironie, überaus amüsanten Reflexion über die Schauspielkunst auf der Bühne und vor der Kamera und im wahren Leben. In beiden Fällen ist das Etikett „Große Kunst“ völlig berechtigt. Da Pacinos Film im Wettbewerbsprogramm außerhalb der Konkurrenz gezeigt wurde, hat er keine Chance auf eine Auszeichnung. Dafür bekam sein Film bisher den meisten Beifall der internationalen Kritik für einen Film in der Wettbewerbssektion. Auch „Pulet aux Prunes“ wurde heftig beklatscht – und steht jetzt ganz oben auf der List der Kandidaten für den diesjährigen Goldenen Löwen.

 

Peter Claus aus Venedig, 3. September 2011

Bild:  Wilde Salome (la Biennale di Venezia © 2011)