Abschied vom Mannsbild

Manchmal dauert’s bekanntlich: Erst am Donnerstagmittag, beim Gucken des 21. Wettbewerbsbeitrages, des dritten italienischen, ging mir der Kronleuchter auf: Vom ersten Film in der internationalen Konkurrenz, George Clooneys „The Ides of March“ (USA), bis zum bisher vorletzten, dem zweiundzwanzigsten, Johnnie Tos „Duo mingijn“ (Life without Principle/ Hong Kong) nehmen nahezu alle um den Goldenen Löwen ringenden Filme der 68. „Mostra Internazionale D’Arte Cinematografica“ Abschied vom tradierten Mannsbild. Verlierer, Unentschlossene, Ängstliche, Verlogene, Getriebene präsentieren hier die Vertreter jenes Geschlechts, das sich selbst einmal als „das starke“ angepriesen hat. Höchst spannend – und für einen Mann als Zuschauer mit ziemlich irritierenden Empfindungen verbunden.

Regie-Debütant Gian Alfonso Pacinotti, bisher in Italien bekannt als Cartoonist und Autor, irritierte in dieser Hinsicht besonders (und besonders wirksam!) mit „L’ultimo terrestre“ (Der letzte Mann auf Erden). Erzählt wird von dem vielleicht 35-, vielleicht auch schon 45-jährigen Kellner Luca (Gabriele Spinelli). Die Welt um ihn herum, seine Heimat, Italien, ist verrückt. Die ökonomische Krise hat die letzten Reste von Mitmenschlichkeit mit sich ins Nichts gerissen. Jede und jeder lebt und stirbt für sich allein. Nur Luca, bis zur Kommunikationsunfähigkeit sensibel, scheint sich noch einen Rest an Würde bewahrt zu haben. Da scheint der Wahnsinn endgültig die Macht zu übernehmen: Überall wird berichtet, dass Aliens die Herrschaft über die Welt übernehmen würden. Was niemanden so recht interessiert oder gar aufregt. Auch der Untergang wird in gebeugter Haltung und schlurfend hingenommen. Luca jedoch, der tatsächlich einem dieser fremden Wesen aus der Ferne des Alls begegnet, könnte vielleicht doch noch über sich hinauswachsen. Vielleicht?!

Die Spannung erwächst nicht aus klassischen Science-Fiction-Motiven. Die gibt es hier nicht. Die Aliens sehen zwar schön skurril aus, sind aber auch nichts anderes als rechte Menschen. Eben nur von einem anderen Stern. Dem Film dient ihr Erscheinen nicht für Action, sondern zum Philosophieren über den Zustand Italiens und damit über den der so genannten westlichen Welt. Das ist komisch und traurig zugleich, manchmal sogar albern, dann wieder todernst, und immer sehr gedankenreich.

Den Goldenen Löwen wird es für „L’ultimo terrestre“ wohl kaum geben. Doch es ist denkbar, dass Gabriele Spinelli dem bisher haushoch für die Auszeichnung als bester Schauspieler favorisierten Michael Fassbender die Coppa Volpi wegschnappt. Es wäre nicht ungerecht. Ein bisschen an Buster Keaton erinnernd, ein wenig an Woody Allen, hat Spinelli, auch ein Debütant, eine schön-eigenartige Innerlichkeit und verkörpert den Traumtänzer Luca, der sich unentwegt am Abgrund bewegt, derart lustvoll, dass man sich ihm nicht entziehen kann.

Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs dominieren auch Johnnie Tos „Duo mingijn“ (Life without Principle), einen handfesten Thriller vor dem Hintergrund der weltweiten Finanzkrise. Überraschend: To hat den bisher komischsten seiner Filme inszeniert. Wie immer bei ihm, ist die Story raffiniert ausgetüftelt, der Plot Hitchcock-like, und es wird viel gemordet. Das Blut fließt allerdings tatsächlich sehr fröhlich. Die Hauptfigur ist ein tumber Hilfsgangster, der am Ende – gerade, weil verdammt dusslig – als Strahlemann dasteht. Interessant: Der komödiantische Reißer mit all seinen Verfolgungen und Verwicklungen bleibt durchweg zeitkritisch. Auch dies: Kino für Erwachsene, also ein für diesen Festivaljahrgang typischer Film.

Peter Claus aus Venedig, 8. September 2011

Bild: L’ultimo terrestre (la Biennale di Venezia © 2011)