Happy End bei der 75. Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica. Die Jury fällte überwiegend kluge und nachvollziehbare Entscheidungen.

Manche hatten befürchtet, Regisseur Guillermo del Toro (Oscar für „The Shape of Water “) könne in der Rolle des Jury-Präsidenten befangen sein, und dagegen stimmen, seinem Landsmann, dem Mexikaner Alfonso Cuarón den Goldenen Löwen zuzusprechen. Das hat sich nicht bestätigt. Es wäre auch zu albern, ja, dumm, gewesen. Die von ihm geleitete Jury, dabei waren etwa auch die Schauspieler Naomi Watts und Christoph Waltz, hat völlig richtig entscheiden – und damit, wie auch mit den meisten anderen Preisen, das intelligente und publikumswirksame Erzählkino gefeiert.

„Roma“ von Cuarón also hat den Hauptpreis gewonnen. Zu recht. In vielsagenden schwarz-weiß-Tableaus führt der autobiographisch angehauchte Film in die frühen 1970er Jahre in Mexiko City. Die gefühlvolle, aber nie sentimentale Story dreht sich um ein schlecht bezahltes Kindermädchen. Sie dient einer Mittelstandsfamilie ergeben, schenkt dem Nachwuchs Liebe und Zuneigung ohne Ende. Das begeistert, weil in aussagestarken Bildern und Dialogen gesellschaftliche Entwicklungen gespiegelt werden. Wie in der Mehrzahl der 21 Wettbewerbsbeiträge geht es darum, herauszufinden, was Menschlichkeit heißen kann, heißen muss. Cuarón, der die Kamera selbst geführt hat, denkt darüber mit einer Verve nach, dass man sich in den Film regelrecht verliebt.

Gezeigt werden sollte der Film bereits im Mai in Cannes. Dort aber wurde er abgelehnt, weil der Streamingdienst Netflix das Projekt, nachdem Cuarón keine Geldgeber finden konnte, produziert hat. Grund der Ablehnung: Netflix (und die anderen Streamingdienste) haben bisher darauf beharrt, Spielfilme allein für ihre online-Angebote herausbringen zu wollen. Jetzt heißt es: Filme wie „Roma“ und einige andere werden in ausgewählten Kinos zu sehen sein. Ein Grund zur Freude. Aber: Netflix und Amazon habe während des Festivals eine so genannte „Produktionsallianz“ beschlossen. Das klassische Kino kann sich also nicht als Sieger wähnen.

Auch der „Die Ballade des Buster Scruggs“ von den Brüdern Coen ist eine Netflix-Produktion. Hier werden Wild-West-Klischees in sechs Episoden ad absurdum geführt. Dafür gab’s den Preis für das beste Drehbuch. Für diese Ehrung gab es auch andere Kandidaten. Hat die Prominenz der Coens den Ausschlag gegeben? Der Silberne Löwe für die beste Regie ging ebenfalls an einen Western, den ersten in Englisch gedrehten Spielfilm des Franzosen Jacques Audiard, „Die Gebrüder Sisters“, keine Netflix-Produktion, gestemmt von Produzenten aus Frankreich, Belgien, Rumänien und Spanien. Erzählt wird das Leben eines Profikiller-Paars (John C. Reilly und Joaquin Phoenix). Das ist ungemein pointiert – und fesselt mit Spannung und Geist. Auch hier geht es um eine Reflexion des Zustands der heutigen so genannten westlichen Welt, darum, wie man das nach wie vor wirkende Gesetz vom Recht des Stärkeren aushebeln kann.

Der Große Preis der Jury ging an den Griechen Yorgos Lanthimos. Seine Komödie „Die Favoritin“ (Großbritannien, Irland, USA) zeigt den Alltag am Hof der letzten Stuart, der englischen Königin Anne (1665 – 1714). Mit schwarzem Humor wird dabei das Unwesen heutiger Politiker angeprangert, wie deren Gier nach Macht und Geld die Demokratie gefährdet. Olivia Colman aus England wurde außerdem für ihre herrlich doppelgesichtige Darstellung der Anne als beste Schauspielerin ausgezeichnet. Das ist so richtig wie die Würdigung des US-Amerikaners Willem Dafoe als bester Schauspieler. In dem von Julian Schnabel klug (und formal originell!) inszenierten Drama „Am Tor zur Ewigkeit“ entwickelt Dafoe das tiefsinnige Porträt des Malers Vincent van Gogh.

Der junge Aborigine Baykali Ganambarr wurde zum besten Nachwuchsdarsteller erwählt. Er spielt in „Die Nachtigall“ den Begleiter einer jungen Frau auf einem Rachefeldzug im Australien des Jahres 1825. Jennifer Kent erhielt dazu den Spezialpreis der Jury. Über diese Entscheidung kann man streiten. Denn die australische Regisseurin deckt ihr Thema, den Kampf um die Gleichberechtigung der Geschlechter und von Menschen unterschiedlichster Herkunft, mit einem Übermaß an Gewalt zu. Wollte die Jury hier ein Statement abgeben? Gut möglich. Die Australierin Jennifer Kent war nämlich als einzige Frau in den Wettbewerb von Venedig eingeladen worden. Was viel Unmut ausgelöst hat. Den hatte Alberto Barbera, der künstlerische Leiter des Festivals, noch vor und zu Beginn des Festivals angeheizt. Da machte er nämlich lautstark klar, dass er von einer Quotenregelung gar nichts halte. Er hat dann, denn ihm blies viel, viel Wind ins Gesicht, vor ein paar Tagen nachgegeben: Venedig wird sich der Initiative „50/50 2020“ zum Erreichen einer ausgewogenen Gender-Balance in der Filmindustrie anschließen. Also auch in dieser Frage: Happy End. Vorerst.

Peter Claus

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Auszeichnungen

Goldener Löwe für den besten Film: „Roma“ (Regie: Alfonso Cuarón/Mexiko)

Grosser Preis der Jury: „Die Favoritin“ (Regie: Yorgos Lanthimos/Grossbritannien, Irland, USA)

Silberner Löwe für die beste Regie: Jacques Audiard für „Die Gebrüder Sisters“/Frankreich, Belgien, Rumänien, Spanien)

Preis für das beste Drehbuch: Ethan und Joel Coen für „The Ballad of Buster Scruggs“ (Regie: Ethan und Joel Coen/USA)

Preis für die beste Schauspielerin: Olivia Colman für „Die Favoritin“ (Regie: Yorgos Lanthimos/Grossbritannien, Irland, USA)

Preis für den besten Schauspieler: Willem Dafoe für „Am Tor zur Ewigkeit“ (Regie: Julian Schnabel/USA, Frankreich)

Spezialpreis der Jury: „Die Nachtigall“ (Regie: Jennifer Kent/Australien)

Marcello-Mastroianni-Preis für den besten jungen Darsteller: Baykali Ganambarr für „Die Nachtigall“ (Regie: Jennifer Kent/Australien)

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Tag 9: Der Kampf der Frauen um Gleichberechtigung

Dieses Thema war in der aktuellen Festivalausgabe bisher eher am Rand auszumachen. Nun aber sind dazu zwei Beiträge im Wettbewerb gezeigt worden, über die es lohnt, zu diskutieren.

In „The Nightingale“ erzählt die Australierin Jennifer Kent, die einzige Regisseurin im Wettbewerb, eine höchst brutale Ballade: Um 1825 sinnt eine junge Irin auf Rache, Rache für Vergewaltigung und andere Grausamkeiten. Konsequent geht sie den Weg der Gewalt …

Aisling Franciosi in The Nightingale von Jennifer Kent | © Transmission

Der ist brutal und blutig, so sehr, dass manche Zuschauer vorzeitig aus dem Kino flohen. Kent setzt, anders als andere Filmemacher hier im Wettbewerb, nicht auf das Prinzip Hoffnung, vertraut auch nicht der Kraft der Utopien. Das ist hart, sehr hart, hat aber durchaus auch etwas Läuterndes. Leider erliegt sie, je weiter das Geschehen fortschreitet, auch der Faszination der Gewalt. Das überdeckt dann den Inhalt doch zu sehr.

Der Italiener Mario Martone setzt in „Capri-Revolution“ auf Sanftes und Sanftmut. In üppigen Bildern erzählt er von der Emanzipation einer jungen Bäuerin auf der Mittelmeerinsel Capri im Jahr 1914. Künstler und Intellektuelle, Anhänger der Reformbewegung, versuchen, sich hier ihr Paradies aufzubauen. Die Heldin der Erzählung hütet Schafe, wird von ihren erwachsenen Brüdern wie eine Sklavin behandelt. Doch sie hat Mut, schließt sich den Fremden an. Aber auch hier soll sie sich auf eine Art unterordnen, die ihr – zu recht – nicht passt. Und wieder muss sie rebellieren …

Mortone setzt auf Hoffnung, am Schluss zeigt er einen Aufbruch der jungen Frau, den sie gemeinsam mit ihrer Mutter unternimmt. Die Beiden machen sich auf in die USA, damals das Land der großen Hoffnung für Viele aus Europa. Hier, wie auch vorher, gibt es allerdings sehr oft schwelgerische Idealisierungen, Romantisierungen, die dem Erzählfluss nicht gut tun. Der harte Weg der Protagonistin hätte eine härtere Filmsprache gut vertragen.

Bei allem Für und Wider: Beide Filme greifen ein wichtiges Thema auf, agitieren nicht, setzen auch auf Gefühle, arbeiten mit starken Bildern, haben überzeugende Schauspielerinnen in den Hauptrollen. Es gäbe gute Gründe, wenn die Jury an diesen Filmen nicht vorbei ginge.

Peter Claus

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Tag 8: Gehört solch ein Film in das Wettbewerbsprogramm?

Auf der Berlinale im Februar dieses Jahres hatte der Spielfilm „Utøya 22. Juli“ des norwegischen Regisseurs Erik Poppe die Frage aufgeworfen, ob die Platzierung im Wettbewerb richtig ist oder nicht. Die Jury der Berlinale hat dem Film keinen Preis gegeben.

Nun also in Venedig, wieder im Wettbewerb, ein Drama um das sogenannte Breivik-Massaker auf der norwegischen Insel Utøya am 22. Juli 2011. Wobei beide Filme kaum vergleichbar sind. Poppe hatte sich ganz auf das grausame Geschehen auf der Insel konzentriert, hat den rechtsextremen Massenmörder nicht gezeigt, wollte den Opfern ein Denkmal setzen. Sein britischer Kollege Paul Greengrass zeigt das jedoch in der Netflix-Produktion „22. Juli“. Die Verhaftung des Täters und den dann folgenden Prozess. Dabei arbeitet er mit Mitteln der Krimispannung, des Melodrams und des Aufklärungsfilms. Das ist durchweg ehrenhaft. Doch was soll’s? Viele Themen werden angerissen: Was hat das Attentat für Einzelne bedeutet, für die Überlebenden, die Familien, die Verwundeten? Wie hat der Verteidiger seine Arbeit gemacht? Wie die Regierung? Wie sehr steht der Massenmörder für eine politische Entwicklung?

All das wird angetippt, aber nicht vertieft. Es bleibt letztlich der unangenehme Eindruck, einem Spektakel mit fürchterlichem, weil wahrem, Hintergrund zugesehen zu haben. So wird also auch hier die Frage danach, ob der Film in den Wettbewerb gehört oder nicht, heiß diskutiert. Sie wird von vielen mit einem klaren „Nein“ beantwortet. Man ist gespannt, ob die Jury das anders sieht.

Ansonsten ist der Endspurt eingeleitet. Allenthalben schießen die Spekulationen ins Kraut, welcher Film das Rennen macht. Noch stehen Wettbewerbsbeiträge aus. Und die Erfahrung sagt, dass Festivalorganisatoren zum Ende hin gern besonders starke Filme ins Rennen schicken. Warten wir also noch mit dem Rätselraten, ob dieser oder jener Film den Goldenen Löwen einheimsen kann.

Peter Claus

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Tag 7: Weltpremiere des deutschen Kandidaten für den Auslands-Oscar

Die Meinungen gehen angesichts von Florian Henckel von Donnersmarcks Spielfilm „Werk ohne Autor“ mal wieder stark auseinander. Es darf gestritten werden.

Florian Henckel von Donnersmarck schaut auf die deutsche Historie des 20. Jahrhunderts. Er setzt dabei auf traditionelles Erzählen, geradlinig, leicht erfassbar. Die mit vielen Emotionen aufgeladene Geschichte reflektiert geschickt Historie in persönlichen Lebenswegen. Großartiges Schauspiel sorgt zusätzlich für Reiz.

Im Zentrum der Handlung steht Kurt Barnert (als Erwachsener gespielt von Tom Schilling). Als etwa Fünfjähriger muss er erleben, dass seine geliebte Tante Elisabeth (Saskia Rosendahl) wegen einer psychischen Störung in eine Klinik verschleppt wird. Auf Anordnung des Arztes Carl Seeband (Sebastian Koch), einem fanatischen Nazi, wird sie – das erfahren wir Zuschauer, Kurt weiß es erst mal nicht – von dort weggebracht und in einer Gaskammer ermordet. Für den Jungen war sie wichtig, hat sie ihn doch in seinem Wunsch bestärkt, Maler werden zu wollen. Und er bleibt dabei. Als Jugendlicher studiert er in Dresden. Während des Studiums verliebt sich Kurt, der nichts von Seebands Verstrickungen in den Mord an seiner Tante weiß, ausgerechnet in dessen Tochter, die Modestudentin Ellie (Paula Beer). Als Mensch, wie als Mann auf der Suche nach seiner künstlerischen Passion, bleibt Kurt jenem Satz treu, den ihm seine Tante einst mit auf den Weg gegeben hat: „Nicht wegsehen Kurt, alles, was wahr ist, ist schön.“ Daran hält er sich, auch, als er mit der DDR-Kunstlenkung durch die Partei in Clinch gerät, auch als im Westen scheinbar alles möglich ist …

Nicht wegsehen Kurt, alles, was wahr ist, ist schön.“ – Diesen Satz darf man auch als Aufforderung Henckel von Donnersmarcks an das Publikum verstehen. Er hat ja heute, gerade heute, eine genauso immense Bedeutung wie einst. Der Film weist sehr direkt darauf. Direktheit ist ja nun mal die Sache von Florian Henckel von Donnersmarck. Da darf es dann auch mal holzschnittartig werden. Wirkung macht das durchgehend. Es gelingt effektsicher, die Geschichte von Ellies und Kurts Liebe, die sich gegen viele Widerstände durchsetzen muss, als Folie für mehr zu nutzen. Da ist etwa die Story des Arztes Seeband, der in der Nazizeit, in der DDR und später in der BRD als Fettauge ganz oben auf der Suppe schwimmt. Henckel von Donnersmarck vermittelt Zeitgeschichte über Spannung und Gefühle. Gelegentlich offeriert er auch sehr komische Momente, nämlich dann, wenn er die Kunst- bzw. Künstlerszene der 50er und 60er Jahre in Ost und West beleuchtet. Was nie denunzierend anmutet. Im Gegenteil: Durch die Komik bekommt man auch als nicht sonderlich an bildender Kunst interessierter Kinobesucher Zugang. Sehr geschickt. Dabei spielt es für die Zuschauer keine Rolle, dass wesentliche Teile der Erzählung vom Leben des jetzt 86jährigen Malers Gerhard Richter angeregt worden sind. Im Film trägt er einen anderen Namen, so wie auch weitere bekannte Persönlichkeiten, Joseph Beuys beispielsweise, fiktive Namen haben. Ganz klar: Es geht nicht darum, ein Leben eins zu eins nachzuerzählen. Es geht um Exemplarisches. Und das zeigt der Film mit Wucht.

>Paula Beer, Sebastian Koch und Tom Schilling in den Hauptrollen fesseln ungemein. Dabei hat ihnen das Drehbuch meist nur schlaglichtartige Szenen zugestanden, Skizzen, Momentaufnahmen. Doch sie bieten reiche Charakterporträts, erschließen die Figuren nämlich mit genauer Körpersprache und ausdrucksvollem Mienenspiel. Um sie herum und mit ihnen agieren ausschließlich Könner. Ina Weisse, Jeanette Hain, Ben Becker und Lars Eidinger zum Beispiel haben kleine Rollen, denen sie mit ihrer Klasse Gewicht verleihen. Man guckt allen ungemein gern zu.

Florian Henckel von Donnersmarck ist kein Filmemacher, der auf kunstvolle Originalität aus ist, nicht mal auf sonderlich feingeistiges Erzählen. Er ist einer, der sozusagen auf den Tisch haut. Er bietet Kintopp im besten Sinn des Wortes: mitreißend, kraftvoll, das Publikum mit starken Emotionen einbeziehend, klug unterhaltend, was heißt, den Anspruch, auch Wichtiges vermitteln zu wollen, nicht verratend. Er transportiert in diesem Spielfilm jede Menge kluger, guter Gedanken zu Mitmenschlichkeit, Toleranz, Ausgrenzung, Fortschritt des Denkens. Weil schlicht vermittelt, kann er viele erreichen. Er kommt dem Traum von der Kunst für die Massen erstaunlich nah. Florian Henckel von Donnersmarck beherrscht hier das Einfache, das so schwer zu machen ist. Chapeau!

Peter Claus

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Tag 6: Willem Dafoe als van Gogh in „At Eternity’s Gate“ und ein düsterer k. und k. Krimi

Kurz bevor Florian Henckel von Donnersmarcks Maler-Biographie „Werk ohne Autor“ auf dem Lido di Venezia im Wettbewerb startet, hat dort der US-Amerikaner Julian Schnabel mit dem Vincent-Van-Gogh-Drama „At Eternity’s Gate“ („Am Tor zu Ewigkeit“) den Maßstab für ein derartiges Unterfangen hoch gelegt, sehr hoch.

Vincent Van Gogh (1853 – 1890) also. Gibt’s da noch Neues zu erzählen? Durchaus. Da sind etwa die bis heute nicht geklärten Umstände seines Todes oder die Tatsache, dass 2016 ein bis dahin unbekanntes Buch mit Skizzen und Zeichnungen von ihm aufgetaucht ist. Julian Schnabel („Basquiat“, „Before Night Falls“) erzählt davon, bietet seine Version an. Doch das ist nicht das Wesentliche. Bei aller Bebilderung äußerer Lebensumstände des Malers zwischen Wachen und Wahn, erkundet er doch vor allem einen Satz des Künstlers: „Ich bin meine Bilder.“ Vincent-Darsteller Willem Dafoe muss sich nicht in exzessiven Szenen „austoben“. Er darf leise sein, verinnerlicht, behutsam. Das bekommt dem Porträt des Mannes und seiner Zeit sehr gut. Es wäre keine Überraschung, wenn er hier als bester Schauspieler ausgezeichnet werden würde.

Willem Dafoe spielt Vincent van Gogh in „At Eternity’s Gate“ | (Foto: Filmfestspiele Venedig)

Großartig: Der Film über das Schicksal des Verkannten weitet sich zu einer gedankenreichen Studie über die Schwierigkeiten, die so genannte Außenseiter generell in der bürgerlichen Gesellschaft haben und damit über die latente Intoleranz eben dieser Gesellschaft. Womit Schnabel, alles andere wäre ja auch uninteressant, direkt im hier und heute ankommt. Um Dafoe herum agiert ein großartiges Ensemble – etwa Emmanuelle Seignier, Mads Mikkelsen, Oscar Isaac, Rupert Friend.

Nicht zu vergessen die Kamera: der Franzose Benoît Delhomme („Die Entdeckung der Unendlichkeit“) hat oft mit einer Handkamera gearbeitet, um Vincent Van Gogh so nah wie nur möglich zu kommen. Oft zeigt er Bilder von der Wirklichkeit, die der Maler sieht. Die sind dann, je nach dessen Gemütszustand, mal strahlend klar, dann wieder verwaschen und trüb. So taucht man – auch Dank der visuellen Gestaltung – in die Sichtweise des Künstlers auf die Welt ein und entdeckt sie somit ein Stück weit auch neu.

Was Oscar-Preisträger László Nemes („Son of Saul“) mit „Napszállta“ (internationaler Verleihtitel: „Sunset“/ „Sonnenuntergang“) wohl auch vor hatte. Es ist ihm nicht gelungen. Der Film blickt auf die Zeit unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Eine junge Frau bewirbt sich in Budapest um die Anstellung in einem Hutgeschäft. Sie trägt den gleichen Familiennamen wie dieses bekannte Unternehmen. Wo ist der Zusammenhang? Das bleibt im Dunklen. Wie so vieles andere in diesem Film, der die junge Frau bei einer beständigen Suche nach was auch immer zeigt; ihrem Bruder (falls es den überhaupt je wirklich gegeben hat oder noch gibt), ihrer Vergangenheit, ihrer Zukunft. Der Film will wohl ein Tableau der verlorenen kulturellen Vielfalt Europas vor den beiden großen Kriegen des 20. Jahrhundert entwerfen. Doch er driftet in zu viele Manierismen ab, etwa wenn die Hauptfigur überwiegend von hinten oder von schräg-seitlich zu sehen ist. Am Ende: Ratlosigkeit. Mehr nicht. Das ist zu wenig.

Peter Claus

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Tag 5: Grundsätze des Klassenkampfes und ein außergewöhnlicher Western

Mit „What You Gonna Do When the World’s on Fire?“ („Was machst Du, wenn die Welt brennt?“) von dem in den USA lebenden italienischen Regisseur Roberto Minervini startete ein Dokumentarfilm im Wettbewerb. Gezeigt wird der Alltag von nicht-privilegierten Menschen mit schwarzer Hautfarbe in den USA – nach unzähligen brutalen Polizeiübergriffen im Vorjahr im Süden des Landes, bis hin zur Ermordung eines jungen Afroamerikaners. Erst mal ist Staunen angesagt, Staunen darüber, dass es dem weißen Europäer gelungen ist, das Vertrauen einer großen Gruppe von afroamerikanischen Frauen und Männern zu erobern. Freimütig äußern sie sich über ihr Leben, über Ängste, über Hoffnungen. Manche sind lethargisch, andere organisieren sich in der Black-Panther-Bewegung.

In schöner Selbstverständlichkeit zeigt der Film, dass der Kampf um Gleichberechtigung nur dann zu einem guten Ende führen kann, wenn sich keine Gruppe abgrenzt oder über eine andere stellt. Einige der Protagonisten formulieren sehr genau die polit-ökonomischen Ursachen für die Schieflage, verweisen etwa auch darauf, dass nur Erfolg haben kann, wer sich Bildung aneignet, dies aber bedeutet, die gegenwärtigen Strukturen des Bildungssystems zu ändern. Der Film offeriert – mal auf sehr Privates fokussierend, dann wieder auf Gesellschaftliches – eine Lehrstunde über Grundsätze des Klassenkampfes. Das sollte einen bewegen, ja, aufregen. Tut’s aber nicht sonderlich. Was am Stil liegt. Roberto Minervini hat sozusagen überinszeniert, gelegentlich gar überstilisiert. Immer wieder fragt man sich, ob, so perfekt wie die Porträtierten agieren, da nicht doch Schauspieler in Rollen zu sehen sind. Die Gestaltung deckt den Inhalt zu. Schade.

An der Spielfilm-Front der internationalen Konkurrenz auf Löwen-Jagd hat sich am Sonntag ein Film ganz vorn positioniert: „The Sisters Brothers“ („Die Gebrüder Sisters“), das erste vollständig in englischer Sprache gedrehte Werk des französischen Autors und Regisseurs Jacques Audiard nach dem Bestseller „The Sisters Brothers“ des Kanadiers Patrick deWitt. Das vom belgischen Kameramann Benoît Debie (bekannt etwa durch die Fotografie von Wim Wenders’ „Die schönen Tage von Aranjuez“) zum Schwärmen schön fotografierte Epos führt ins Jahr 1851, in die Weiten des Wilden Westens. Die Brüder Eli (John C. Reilly) und Charlie Sisters (Joaquin Phoenix), beide nicht mehr die Jüngsten, arbeiten seit Jahren erfolgreich als Auftragskiller. Jetzt sollen sie den Chemiker Hermann Kermit Warm (Riz Ahmed) umbringen, denn der hat vermeintlich eine sensationelle Methode entwickelt, um die Goldsuche zu vereinfachen. Doch der Wissenschaftler ist nicht allein. Da ist auch noch John Morris (Jake Gyllenhaal), vom selben Auftraggeber wie die Gebrüder Sisters auf Hermann Kermit Warm angesetzt. Drei gegen einen? Die Karten werden mehrfach neu gemischt …

Man kann diesen Film als Ballermann-Ballade sehen, wenn man gehörig naiv guckt. Geboten wird aber mehr, sehr viel mehr, nämlich eine facettenreiche Studie heutigen US-Alltags im Bannstrahl von Populismus und Profitgier. Ja, sogar mehr als eine Studie, nämlich ebenso eine Vision: Gezeigt wird, in welchem Dreck die Demokratie landet, wenn sie von machtgierigen Machos als Spielzeug missbraucht wird. Wobei Audiard letztlich zeigt, dass ein Ausweg aus der Spirale von Gewalt und Geldgier möglich ist, so man die Zeichen der Zeit erkennt und im richtigen Moment erst nachdenkt, bevor man handelt. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass dieser Film als einer der komplexesten und gedankenreichsten Western in die Geschichte der Filmkunst eingehen wird. Zur Halbzeit des Festivals ist kaum vorstellbar, dass die Jury „The Sisters Brothers“ nicht mit einem Preis bedenkt. Aber wer weiß: die zweite Festivalhälfte der Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica 2018 mag noch manch gute Überraschung bringen.

Peter Claus

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Tag 4: Die Gegenwart erobert den Wettbewerb – so kraftvoll wie verstörend und auch provozierend.

Regisseur (und Drehbuchmitautor) David Oelhoffen erzählt, wie schon 2014 in „Den Menschen so fern“, von Männerbündnissen in fatalen Zeiten. Dieses Mal begibt er sich dazu ins Paris der Gegenwart. Da ist Driss (Reda Kateb), der Gesetzeshüter, spezialisiert auf Drogenfahndung, und da ist Manuel (Matthias Schoenaerts), der sein Geld mit dreckigen Geschäften verdient. Zusammen aufgewachsen, haben sie sich extrem voneinander entfernt. Oder doch nicht? Diese Frage gibt dem Spielfilm „Frères ennemies“ („Verbrüderte Feinde“) Drive. Nach einem mörderischen Zwischenfall sind Ermittler und Täter aufeinander angewiesen, allein schon aus purem Überlebenswillen. Das sorgt für starken Krimithrill. Wichtiger ist jedoch die Auseinandersetzung mit moralischen Grundsatzfragen im Spannungsfeld von Vertrauen und Verrat, Familienehre und Culture-Clash.

Frères ennemies

Anders als in „Den Menschen so fern“ setzt Oelhoffen dieses Mal auf schnelle Schnitte, dramatische Wendungen, gar Action. Das ist von Reiz. Doch die wohl angestrebte Tiefe der Erzählung wird davon weitestgehend verdeckt. Gelungen ist jedoch die Spiegelung eines der gegenwärtigen Grundprobleme der bürgerlichen westlichen Gesellschaften, die begreifen müssen, dass ihre in Jahrhunderten gewachsenen Maßstäbe des menschlichen Miteinanders im Banne der Globalisierung und der neuen, gegenwärtigen Völkerwanderungen nicht mehr unerschütterliche Pfeiler ihres Alltags sind. Es bröckelt, und zwar heftig. Wegsehen hilft so wenig wie rechtskonservativer Fanatismus. Aber was dann? Oelhoffen gibt keine Antwort. Weshalb man das Kino denn aufgewühlt, in positivem Sinne verstört, verlässt.

Verstört, aber eher, weil ratlos ob des Films an sich, entlässt einen Regisseur Luca Guadagnino (Italien). Er hat „Suspiria“, Daria Argentos Horror-Hit gleichen Titels aus dem Jahr 1977 als Vorbild für seinen gleichnamigen Spielfilm genommen. Von einem Remake kann nicht wirklich die Rede sein, zu viele Details sind verändert bzw. hinzu gekommen. Bei Luca Guadagnino geht es um Hexen und andere Schreckgespenster in Berlin: eine junge Tänzerin (Dakota Johnson) gerät in die Fänge einer undurchsichtigen Ballettlehrerin (Tilda Swinton). Zwischen Tanz und Teufelskult erlebt sie eine Fahrt, die tatsächlich in der Hölle endet. – Atmosphäre ist hier alles. Das Wabern zwischen Wachen und Wahn reflektiert Luca Guadagnino („Call Me by Your Name“) mit dem von ihm bekannten Stilbewusstsein exzellent. In Interviews hatte er vorab angekündigt, er wolle mit dem Film „verstören wie irgendwie möglich“. Das ist ihm gelungen – allerdings vor allem deshalb, weil er in der kruden Story in obszöner Weise auf Verbrechen der deutschen Nazis anspielt. Er unternimmt damit eine Grenzüberschreitung, die nur widerwärtig ist.

Und dann noch mal Vergangenheit: Der Brite Mike Leigh, einer der großen alten Männer des aufklärerischen europäischen Kinos („Home Sweet Home“, „Life is Sweet“, „Secrets & Lies“), beleuchtet, wie so viele der Wettbewerbsfilme, das Gestern. Im August 1819, also fast genau vor zweihundert Jahren, kam es auf dem St. Peter’s Field bei Manchester zum so genannten Peterloo-Massaker: Bei einer Kavallerieattacke auf eine friedliche Protestkundgebung von etwa sechzigtausend Menschen gegen eine unsoziale Gesetzgebung gab es zahlreiche Tote und Verletzte. Leigh erzählt davon in pittoresken Bildern, geschickt Einzelschicksale beleuchtend, die Zeit detailverliebt beschreibend, alle Register des klassischen Erzählkinos ziehend. Sein sozialkritischer Impetus ist weder zu übersehen noch zu überhören. Und das ist das Problem des Films. Er ist zu brav, zu vorhersehbar. Man ist an Leighs Seite, der vehement für die Rechte der Unterdrückten eintritt, aber er reißt einen mit diesem Spielfilm nicht wirklich mit.

Peter Claus

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Tag 3: Die Coen-Brüder präsentieren einen Western, Lady Gaga spielt ihre erste Kino-Hauptrolle und in „Doppelleben“ wird sehr viel geredet

Der Wettbewerb offeriert bisher – abgesehen von einer Ausnahme – eine einzige Geschichtsstunde. Warum nicht! Die Gegenwart ist nun mal aus der Historie heraus am besten zu verstehen und diese Filme stellen natürlich Fragen an die Gegenwart. Aber: Nicht alles ist gut. Leider.

Erst mal zur Ausnahme: „Double Vies“ („Doppelleben“/ internationaler Verleihtitel: „Non-Fiction“) vom französischen Autor und Regisseur Olivier Assayas. Die Story ist angelegt wie in einer traditionellen Boulevard-Komödie im Theater: Mehrere Charaktere interagieren in unzähligen Dialogszenen miteinander, treiben auch gern mal das uralte Bäumchen-wechsel-dich-Spiel, sind sich selbst und einander oft überdrüssig, bewahren aber stets Contenance. Und am Ende darf es happy werden …

Nicht nur die im gehobenen bürgerlichen Milieu von Schriftstellern, Verlegern, Schauspielern und Randfiguren aus der Politszenerie angesiedelte Story ist kaum der Rede wert, der Film selbst ist es auch nicht. Eine Flut an eitlen, pseudointellektuellen Reden prasselt aufs Publikum nieder. Da geht es um Selbstwertgefühl und die Entwicklungen der Kunst im Banne von Digitalisierung und Profitstreben, um Selbstmitleid und falsche Freundschaften. Die Akteure wirken durchweg hübsch arrangiert und ausgeleuchtet, jedoch nie lebensprall. Überflüssig.

Leider erfüllt auch der neue Film der Coen-Brüder die Erwartungen nicht. Sie zeigen im Wettbewerb „Die Ballade von Buster Scruggs“. Sechs nicht zusammenhängende Episoden von Kurzgeschichtenformat bebildern Klischees des Wilden Westens: schwache Frauen und starke Männer, singende Cowboys und Revolverhelden. Einmal ist das sehr komisch, ansonsten eher dramatisch bis depressiv. James Franco, Liam Neeson, Tom Waits und andere Stars wirken ambitioniert und agieren mit spürbarer Lust. Doch die überträgt sich nicht aufs Publikum. Relativ rasch wird’s langweilig. Denn in mehr als zwei Stunden bebildern die Coens nichts anderes als die allbekannte Tatsache, dass Geld allein (bzw. materieller Besitz) nicht glücklich macht. Das ist – bei aller ausgeklügelten Schönheit der Bilder – ein bisschen wenig.

Weniger ausgeklügelt als auf Wirkung berechnet ist die Neuverfilmung von „A Star is Born“, zuletzt 1976 als Star-Vehikel für Barbra Streisand aufbereitet, dank deren Klasse und der Güte der Inszenierung noch heute mitreißend. Dieses Mal darf Lady Gaga in der Hauptrolle posieren. Sie macht’s ohne Fehl und Tadel.

Dazu dröhnt die Musik und versucht die Emotionen anzuheizen. Kino-Novizen mag das überwältigen. Wer zuvor schon mehr als einen Film gesehen hat, gähnt nur. An den Kinokassen wird das reüssieren. Lady Gaga hat schließlich eine enorme Fan-Gemeinde. Und von Fans darf man keine kritische Distanz erwarten. Wie sehr sie verehrt wird, zeigte sich bei ihrer Ankunft auf dem Lido di Venezia zur Pressekonferenz von „A Star is Born“. Fans nahezu aller Altersklassen gerieten in eine geradezu hysterische Verzückung. Wär’s ein Film gewesen, dann sicher eine Groteske. Aber das Leben ist ja bekanntlich manchmal viel grotesker als das Kino.

Peter Claus

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Tag 2: Intrigen und Affären am Hof von Anne Stuart, politische Unruhen in Mexiko und die bisher größte Herausforderung im Wettbewerb

Frauenpower auf dem Lido di Venezia, dank ausgezeichneter Schauspielerinnen im Wettbewerbsbeitrag „The Favourite“ („Die Favoritin“), vom griechischen Regisseur Yorgos Lanthimos, realisiert von Produzenten aus England, Irland und den USA. Die US-Amerikanerin Emma Stone und ihre englischen Kolleginnen Rachel Weisz und Olivia Colman bieten Auszeichnungswürdiges in einer Gesellschaftssatire von Format. Der Film blickt auf das Leben am Hof der Königin Anne, der letzten Stuart. Vordergründig geht es um die lesbischen Neigungen der Monarchin.

Doch hinter den intelligenten Wortkaskaden blitzt eine höchst gescheite Auseinandersetzung mit möglichen Verwerfungen politisch Verantwortlicher auf. Verwerfungen, die in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft keinesfalls verschwunden sind, im Gegenteil. Machtrausch, Dünkel und Geldgier sind die Dreh- und Angelpunkte des Geschehens. Man sieht’s so amüsiert wie erschrocken, dass sich seit rund dreihundert Jahren kaum etwas geändert hat. Interessanter Aspekt für Filmkenner: das Drehbuchautoren-Duo Deborah Davis und Tony McNamara, hat sich von einem deutschen Spielfilm anregen lassen: „Das Glas Wasser“, die freie Adaption des gleichnamigen Theaterstücks von Eugène Scribe in der Regie von Helmut Käutner.

Der Mexikaner Alfonso Cuarón (Oscar-gekrönt für „Gravity“) schaut in „Roma“ ebenfalls in die Geschichte, in die Zeit vor ungefähr einem halben Jahrhundert. Auch er widmet sich vor allem der Kraft der Frauen. Erzählt wird, autobiographisch inspiriert, vom Alltag einer Mittelstandsfamilie um 1970 in Mexico City. Das Dasein funktioniert nur, weil fleißige Helferinnen den Haushalt schmeißen und die Kindererziehung übernehmen. Sie allerdings sind wahre Engel, die versuchen, Aufmerksamkeit und Liebe, vor allem für die Kinder, das nötige Gewicht zu geben.

Subtil zeigt der in strengem schwarz-weiß gedrehte Spielfilm, sozusagen wie nebenher, welchen Einfluss gesellschaftliche Entwicklungen auf persönliche Lebensumstände haben. Dem vom damaligen mexikanischen Staat verantworteten berüchtigten Massaker von Corpus Christi an demonstrierenden Studenten in Mexiko-Stadt am 10. Juni 1971, dem Tag des Fronleichnamsfestes, kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Doch Cuarón bietet keine Propaganda, sondern ein ergreifendes Drama, dem man in jeder Sekunde sein persönliches Engagement anmerkt.

Und noch ein Blick zurück: „The Mountain“ („Der Berg“). Dieser Spielfilm bot dem Publikum die bisher größte Herausforderung im Wettbewerb um den Goldenen Löwen. Der US-amerikanische Regisseur Rick Alverson, ein Star der Indie-Szene, erzählt in langen, extrem ruhigen Bildfolgen, geprägt von stark reduzierten Farben, so dass man gelegentlich meint, einen schwarz-weiß-Film zu sehen. Er reflektiert eine brutale Gesellschaft, in der die einzelnen Individuen nichts zählen. Fest macht er das an den Erlebnissen eines jungen Mannes, Andy, in den 1950-er Jahren in der US-amerikanischen Provinz. Die Mutter von Andy (Tye Sheridan) ist seit Jahren in der Psychiatrie weggesperrt. Nach dem Tod seines Vaters (Udo Kier) schließt sich der verschlossene Teenager einem von Krankenhaus zu Krankenhaus ziehenden Arzt (Jeff Goldblum) an, fotografiert für ihn dessen Patienten, Frauen und Männer, an denen der Mediziner eine Lobotomie vornimmt, einen Schnitt im Gehirn, der oftmals grauenvolle Nebenwirkungen hat. Der Film bietet aber keine vordergründige Psychiatrie-Historie oder Kritik an einstigen Zuständen in diesem Bereich der Medizin. Die Story ist als Parabel zu verstehen, auf eine Gesellschaft, deren Krankheit die fortschreitende Gleichmacherei und Entmündigung des Einzelnen ist. Alverson zeigt das in strengen Bildern und vielen theatralisch anmutenden Szenen. Das ist seine Art, sich nicht den gleichmachenden Regeln des Kommerzkinos zu unterwerfen. Eine Herausforderung für die Zuschauer. Wer sich ihr stellt, gewinnt jedoch eine Menge Anregungen für die eigene Bewertung der Welt. Der Film hat absolut das Potential, sich zu einem Arthouse-Knüller zu entwickeln.

Peter Claus

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First Man“ von Damien Chazelle – ein Drama um Astronaut Neil Armstrong – eröffnete die 75. Filmfestspiele von Venedig.

Hollywood steht im Ruf vor allem progressiv eingestellt zu sein. Der Eröffnungsfilm der 75. Ausgabe des ältesten Filmfestivals der Welt zeigt: es geht auch anders. Das Mondlande-Epos „First Man“ („Aufbruch zum Mond“) von Regisseur Damien Chazelle („La La Land“) wirkt, als wolle es die Trump-Parole „America first!“ kräftig unterstützen.

Erzählt wird aus dem Leben von Neil Armstrong (1930 bis 2012), dem ersten Mensch, der 1969 seinen Fuß auf den Mond gesetzt hat. Drehbuchautor Josh Singer („Inside Wikileaks – Die fünfte Gewalt“, „Die Verlegerin“) und Regisseur Chazelle stützen sich dabei auf das 2005 herausgekommene – 2012 neu verlegte – und auf Gesprächsprotokollen beruhende Porträt-Buch „The First Man: The Life of Neil A. Armstrong“ des Historikers James R. Hansen.

Um was geht’s? Augenscheinlich nur um eins: Armstrong als Held zu stilisieren. Seine kleine Tochter stirbt an einem Hirntumor, Freunde verrecken elendig im Dienst der Raumfahrt, er selbst entgeht nur knapp dem Unfalltod, seine Frau verzweifelt fast an seiner Verbissenheit und die beiden am Beginn der Jugend stehenden Söhne leiden unter seiner emotionalen Verschlossenheit. Das ficht den Mann nicht an. Er hält durch: für sein Vaterland, für die Ehre, für seinen Traum.

Bebildert werden die Jahre vor der geglückten Mondlandung. Neil-Armstrong-Darsteller Ryan Gosling darf mal wirkungsvoll weinen, sehr oft grimmig dreinschauen, meist in sich versunken wirken, durchweg sportlich, wortkarg und zielbewusst auftreten. Ob das Training schief läuft, die Technik versagt oder das Tagwerk dahin plätschert – Neil beirrt nichts. Dieser Kino-Armstrong wirkt wie die kernigen Kerle, die John Wayne in unzähligen Western verkörpert hat, Männer, die links und rechts nichts interessiert, die nur auf ihr Ziel zueilen, die schaffen, was sie schaffen wollen, koste es, was es wolle. Am Ende zählt der Sieg. Fragen sind überflüssig.

Ryan Gosling in FIRST MAN (© NBC/Universal)

Leider stellt auch der Film kaum Fragen. Nur ab und an gibt es beispielsweise kleine Hinweise auf die Zeitgeschichte. Vietnamkrieg, Massenproteste gegen die Milliardenkosten des Raumfahrtabenteuers und die Konkurrenz mit dem sowjetischen Kosmonauten-Programm werden stichpunktartig erwähnt. Gewicht bekommt all das nicht. Dafür wird ausführlich eine historische Aufnahme eingespielt, eine Rede des 1963 ermordeten US-Präsidenten John F. Kennedy Anfang der 1960er Jahre, eine Rede, in der er den Wert der Monderoberung für das Selbstverständnis der US-amerikanischen Nation beschwört. America first …

Handwerklich ist das freilich bestechend gemacht. Der Film bietet Spannung. Action und Besinnlichkeit sind geschickt miteinander verwoben. Kameramann Linus Sandgren („La La Land“) hat die klaustrophobische Enge in einer Raumkapsel unentrinnbar eingefangen. Aus dem Ensemble der Schauspieler sticht die Engländerin Claire Foy („Solange ich atme“, „Unsane – Ausgeliefert“) hervor. Sie verkörpert Janet, die Frau von Neil Armstrong. In ihrem ausdrucksstarken Gesicht spiegeln sich Emotionen, ab und an gar Zweifel, auch Glücksmomente. Ihr gehört – da endlich wird’s mal nachdenklich – das Finale des Films: Janet besucht ihren Mann nach der Rückkehr aus dem All in der Quarantänestation. Die beiden können einander nur durch eine Scheibe sehen. Sie halten ihre Finger auf das sie trennende Glas. Sein Gesicht zeigt Zufriedenheit, ihres Unsicherheit. Doch dieser Moment der Besinnung ist zu knapp gehalten. Es bleibt der Eindruck, dass gesagt werden solle: „Durchhalten ist alles“. Die (im Film unterschlagene) Realität straft das Lügen: Nach langjähriger Trennung haben sich Janet und Neil Armstrong 1994 scheiden lassen. Es hätte dem Film gut getan, auch davon zu erzählen.

Auf dem Lido di Venezia wird nun vielfach diskutiert, ob es eine kluge Entscheidung war, ausgerechnet dieses Spektakel als Eröffnungsfilm auszuwählen. Dafür spricht, dass die Mostra ja eine der entscheidenden Startrampen der Oscar-Saison ist. Dafür spricht auch, dass ein Festival zeigen sollte, was es gibt, nicht allein die Rosinen. Dagegen spricht allerdings die Selbstverpflichtung dieses Festivals mit seinem Namen: „Mostra d’Arte Cinematografica“. Das heißt nicht „Kino-Show“ sondern „FilmKUNST-Schau“. Bei allem Hang zum Kommerz hat Venedig in den letzten Jahren immer das Anspruchsvolle gefördert. „The Shape of Water“ hat im Vorjahr gezeigt, dass das auch massenwirksam sein kann, wie Jahre zuvor „Gravity“ oder „Birdman“. Auch in diesem Jahr hätte sich aus der Fülle des Angebots allein im Wettbewerb (in dem „First Man“ läuft) durchaus Kunstvolleres finden lassen können.

Peter Claus

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Das älteste der großen Filmfestivals feiert seinen 75. Geburtstag mit einem Programm voller Oscar-Anwärtern.

Venedig bleibt sich treu. Auch die 75. Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica zieht ihren besonderen Reiz aus dem Umstand, dass sich das älteste große und dabei auch wichtige Filmfestival der Welt als Startrampe für die Oscar-Show etabliert hat. So wie im Vorjahr mit „The Shape of Water“ könnte es auch in diesem Jahr wieder kommen: erst der Löwe, dann der Oscar. Ein Geschäft zu beidseitigem Nutzen. An dem in diesem Jahr auch ein deutscher Oscar-Preisträger partizipieren möchte: Florian Henckel von Donnersmarck. Sein neues, mehr als drei Stunden dauerndes, über Jahre gereiftes Opus „Werk ohne Autor“ gehört zu den 21 Wettbewerbsbeiträgen auf Löwen-Jagd. Klar, dass der Regisseur den internationalen Erfolg seines Stasi-Dramas „Das Leben der Anderen“, wofür er den Auslands-Oscar bekommen hat, wiederholen möchte. „Werk ohne Autor“ geht zur Festivalmitte an den Start. Bekannt ist bisher, dass Henckel von Donnersmarck erneut deutsche Historie reflektiert, dabei anhand einer Familiengeschichte mehrere Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts durchmisst. Wie er in Interviews geäußert hat, hat er sich wesentlich von Stationen aus dem Leben des Malers Gerhard Richter inspirieren lassen.

Der Film ist mit Tom Schilling, Sebastian Koch und Paula Beer in den Hauptrollen prominent besetzt. Schauspielerisch dürfte also auf jeden Fall Klasse zu erwarten sein. Doch auch der Löwe? Die Konkurrenz des Jubiläumsfestivals ist enorm stark. Im Wettbewerb finden sich viele prominente Namen. Dabei sind beispielsweise die Brüder Coen, Julian Schnabel und Damien Chazelle aus den USA, die Engländer Mike Leigh und Paul Greengrass, die Franzosen Olivier Assayas und Jacques Audiard, der Ungar Laszlo Nemes, der Italiener Luca Guadagnino, der Grieche Yorgos Lanthimos und der Mexikaner Alfonso Cuaron.

Und schon prasselte Kritik auf Festivaldirektor Alberto Barbera nieder. Denn mit der Australierin Jennifer Kent hat es lediglich eine Regisseurin in den Wettbewerb geschafft. Und auch im Programm der Filme außerhalb der Konkurrenz läuft nur ein Film, den eine Frau inszeniert hat, die Italo-Französin Valeria Bruni Tedeschi. Viel Contra hat auch die starke Präsenz des Streaming-Dienstes Netflix – er offeriert etwa die Uraufführung von Orson Welles’ „The Other Side oft he Wind“ – auf dem Lido di Venezia ausgelöst. Die Filmfestspiele von Cannes, unumstritten die Nummer 1 der Festivals, haben der online-Konkurrenz des Kinos den Kampf angesagt: Filme, die nicht auch, am liebsten vor der Auswertung im Netzt, in den Filmtheatern laufen, sind dort im Wettbewerb nicht zugelassen. Worauf Netflix verschnupft reagiert hat und auch außerhalb des Wettbewerbs nichts gezeigt hat. Venedig setzt auf ein Miteinander. Was Netflix-Gegener dazu bringt, dem Festival die Rolle eines Kino-Totengräbers zuzuschieben.

Uneingeschränkten Beifall hingegen bekamen Barbera und sein Team für die starke Präsenz von Dokumentarfilmen. Auch hier fallen große Namen auf, zum Beispiel Frederick Wiseman und Errol Morris aus den USA, Amos Gitai aus Israel und Sergei Loznitsa aus Russland.

Und, klar, jede Menge Stars sollen für Glanz und Glamour sorgen. Als erster: Ryan Gosling. Er spielt die Hauptrolle im Eröffnungsfilm „First Man“ („Aufbruch zum Mond“). In dessen Zentrum steht der Astronaut Neil Armstrong, der erste Mensch, der den Mond betreten hat. Inszeniert hat der US-amerikanische Autor und Regisseur Damien Chazelle. Er hatte die Mostar vor zwei Jahren mit „La La Land“ eröffnet – wofür’s in Venedig eine Auszeichnung gab (für Emma Stone als beste Darstellerin), gleich sechs Oscar (unter anderem für beste Regie) und -x andere Preise. Die Erwartungen an „First Man“ sind entsprechend hoch. Wie an die diesjährige Festival-Ausgabe an sich. Wobei eins klar ist: Große Namen sind keine Garantie für hohe Qualität.

Peter Claus