Reise nach A

1975 – Jahr der Begegnungen:
Der Frankfurter Zeichner & Cartoonist F.K. Waechter schreibt sein erstes Theaterstück, „Schule mit Clowns“.

In Brechts „Die Ausnahme und die Regel“ (Regie: Willy Praml, Dramaturgie: Mathias Schüler, später Mitglied und Namensgeber des „Sogenannten Linksradikalen Blasorchester“, kurz SLBO) spielt Heiner Goebbels in der Rolle eines weissen Musikclowns Cello und andere Instrumente als Einmannorchester.

Nach drei Monaten Wassermannzeitaltererlebnis mittendrin im loftjazzigen New York jamme ich erstmals mit eben jenem 23-jährigen Mr. Goebbels an den Keyboards in einem Frankfurter Musikbunker.

Vier Jahre später, 1979, ereilt mich die Schnittstelle aller drei Ereignisse beim gemeinsamen – mit Heiner G. – Einspiel der Musik zu einem weiteren Theaterstück Waechters, „Kiebich und Dutz“, fürs Schauspiel Frankfurt/Main.

Eine 5er Bande ist geboren: zwei Duos & 1 Mann. Denn hinter „Kiebich und Dutz“ stehen die Schaupieler Heinz W. Kraehkamp und Michael Altmann, oder auch bekannt als die herzerwärmende Tappigkeit des kleinen Dicken, verwickelt im philosophierenden Gestrüpp des langen Dünnen – „Hartmann & Braun“.

Und Heiner & ich hatten zuvor als „Duo Goebbels/Harth“ bereits zwei Langspielplatten herausgebracht, mit Themen u.a. wie „I Clowns“, „Vier Fäuste Für Hanns Eisler“, „Krähenmusik“ etc. F. K. Waechter, oder kurz: Fritz, wie wir ihn nannten, gestaltete um diesen Dreh aus Zuneigung ein Poster für das SLBO, auf dem wir Bläser – Heiner, Mathias, ich u.v.a.m. – wie Fabelwesen ausschauten. Für ein früheres Trio, „E.M.T.“, hatte ich mal Masken und einen Roten Elefant zum Reinschlüpfen als erste Requisiten eines wandernden Musikzirkus entworfen, die jetzt zum anregenden Vorbild für’s SLBO wurden, Tiermasken aus Plastik bei Straßenauftritten zu tragen. Den politischen Kampf phantasievoller gestalten, ganz antiautoritär. Grenzen überschreiten.

Fritz sagt: „Diese Utopien haben zunächst mich selbst verändert. In der eigenen Psyche gibt es – anders als in der Gesellschaft – immer die Möglichkeit, ein anderer zu werden. Das hört nie auf, gottlob.“

Die 5er Bande trifft sich erneut, um weitere Pläne zu schmieden. Ein nächstes Theaterstück soll her, das unseren utopisch beseelten Anliegen, sowie beiden Duos eine gemeinsame Plattform gibt. Brainstormings in der Survival-School von „Indianern für morgn“. Hier geht’s um das Rätselhafte, nicht restlos Verständliche. Auf zwei Bühnenebenen agieren je zwei Schauspieler, je zwei Musiker. Nicht illustrativ zueinander, sondern gegenseitig durchdringend in Innen- und Außenwelt des spleenig strangen Sujets. Musik / Theater – Synästhesie, immer wieder Grenzen überschreitend: „Die Reise nach Aschenfeld“. Das hört nie auf, gottlob.

Das 5er Team spinntisiert nicht nur frei in der Luft herum, sondern geht zunächst auf der Basis des großen Erfolgs mit „Kiebich und Dutz“ von konkretem Rückhalt durchs Schauspiel aus. Die neue Produktion ist mit dem Haus mündlich für um 1980 herum vereinbart. Doch der Jahrzehntwechsel erfährt neue Fahrt, ein Wind weht große Namen von Auswärts in die Kultur Frankfurts herein. Dieser die Gemüter twistende Wandel scheucht „Nach Aschenfeld“ – wie es abgekürzt auch heißen soll – erbarmungslos auf die Reise. In Künstlerkreisen gilt eine mündliche Vereinbarung so wie eine schriftliche, hieß es. Aufgrund dessen verklage ich – ein frisch gebackener Familienvater – das Schauspielhaus auf Spielen oder Geld! Erfolglos, kann aber dadurch in Theaterkreisen meinen „Ruf“ weiter ausbauen… Wieder vier Jahre später dann kommt das wackere Team gut in München an, am Residenztheater.

Um das legendäre Jahr 1984 herum verblassen Begriffe wie „Utopie“, schlafen ein, am Horizont tauchen „das Ende der Geschichte“ auf und Hyperrealitäten, auch Rhizome. Reisen, APO-Alltag, sind als künstlerisches Thema schon nicht mehr so angesagt, die alternativen Spontiwärmepole der 70er gehen trotz immanentem Protestgeist und alledem in den 80ern eher baden, hinterlassen coolere Asche. Aschenfeld – ein Anagramm von Schlaf/Ende, oder eine Stadt in der DDR?

Field recordings ziehen in die Musik des Duo Goebbels/Harth mit ein, Hightech & Elektronik breiten sich aus nach Free Jazz, sogenannten linksradikalen Blasorchestern und Punk, auch der Computer & Sampler allmählich, Postmodernität & Cyberworld.
Da sind mindestens zwei Ebenen drin, die innere Hyperrealität, die äußere Reise von A nach B, von Adorno zu Baudrillard. Ein Werk an fraktalen Umsprungspunkten: Auf den Fäusten blasen & dabei deppert stolpern, Lebenswelt revolutionieren in Richtung völlig Unbekanntem & hierbei von der Philosophie kalt zerteilt erwischt zu werden.Ein zielgerichteter, profitorientierter Businessman strauchelt über einen Fremden. Sie verwickeln sich dramatisch komisch ineinander & beide landen schließlich dermaßen labyrinthisch geläutert im Nihilnirgendwo/Hier & Jetzt …

Wieder ein Erfolg. Etwa 25 ausverkaufte Vorstellungen im großen Haus Münchens. Der zwei Duos Spielebenen sind inhaltlich, sowie technisch verfeinert. Das Stück erhält seine endgültige Form. Keine übliche Theatermusik, nein, zwei Musiker, die – durch Lichteffekte/Schattenbilder visuell inszeniert – auf der Bühne anwesend, in einem weiträumigen, sichelförmigen Halbkreis hinter der vorgelagerten Spielfläche der zwei Schauspieler ständig mobilisierend auf zum Teil selbst gebauten, skulpturalen Instrumenten agieren: Musik-Theater in Urform.

1985 wird diese Inszenierung unter der Regie von F. K. Waechter als eine der interessantesten von zwei, drei Theaterproduktionen aus Deutschland zu zwei, drei Aufführungen in die allererste Kulturhauptstadt Europas, nach Athen – für’s dortige Stadttheater – von der griechischen Kultusministerin Melina Mercoury eingeladen.

Sattelschlepper bringen die Requisiten über Land, der deutsche Botschafter in Griechenland putzt seinen Frack zur Premiere heraus, die 5er selbst reisen par Avion – durch die Luft nach A.

Alfred Harth, 23.11.12

 

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Sogenanntes linksradikales Blasorchester: Ich bin halt die Kotze aus deiner Glotze

 

Heiner Goebbels / Alfred Harth: Die Reise nach Aschenfeld (1984)


Von der Duo Goebbels/Harth LP „Frankfurt-Peking“.