Der Flaggenmast von Kijŏng-dong

Ein Reisebericht von Alfred Harth

Der „Compass of Hope“ sagt uns wo wir sind: 145 Kilometer von Pyeongyang und 15 Kilometer von Gaeseong entfernt, was jenseits der ungefähr 4 Kilometer breiten DMZ – Demilitarized Zone – liegt, der Grenze zwischen Süd- und Nordkorea. In der anderen Richtung sollen es 30 Kilometer nach Seoul sein, was mit dem Auto entlang des prächtigen Jayuro Highway („Freiheitsautobahn“) leicht nachzumessen ist. Aber wahrscheinlich sind es 30 Kilometer aus der Vogelperspektive nach Seoul, womit allerdings wohl nur die nächstliegende Stadtgrenze gemeint sein kann, denn Seoul ist als weltweit drittgrößte Metropolregion ungeheuer ausgedehnt, wie ein Land für sich, mit 24 Millionen Einwohnern.

Nun gut, für Geographen ist dies eine hinlängliche Antwort zur Ortsbestimmung, zumal wir am 38. Breitengrad sind, der 1948 als Grenzentwurf für die Teilung diente.

Neben dem Auto gibt es die Möglichkeit, hierher mit der Bahn zu fahren. In früheren Zeiten, also bis 1951, konnte man die Bahnstrecke bis zur nördlichen Stadt im Land an der Grenze zu China, Sinuiju, durchfahren, dann brach der Koreakrieg (1950-53) diese jäh ab. Während des Kriegs erlitt die Stadt schwere Verwüstungen. Bei einem Luftangriff am 8. November 1950 warfen 79 US-amerikanische B29-Bomber insgesamt 550 Tonnen Brandbomben auf Sinuiju ab. Die Stadt wurde dabei fast vollständig zerstört. Die Amis mussten ja im Koreakrieg ihre Munitionsaltbestände loswerden!

Heutzutage arbeitet man daran, diese Strecke wiederherzustellen, mit der Transsibirischen Eisenbahnlinie zu verbinden, so dass ich in etwa zwei Wochen Bahnfahrt von Seoul nach Paris kommen könnte. Als alter Europäer sage ich: “Hoffentlich bald!“, denn dies ist ein Abenteuer das mich mehr reizt, als von Ost-USA nach West-USA zu reisen. Für die Abende in der fahrenden Bahn würde ich mir Lektüre über die Seidenstraße mitnehmen – oh wie romantisch!

Es gibt hier allerdings noch eine weitere Ortbestimmung, eine zur näheren Anschauung des unmittelbaren Umfelds bis Kaesong (der Koreaner an sich nimmt es mit der westlichen Schreibweise nie so genau. Da heißt es z.B. mal „Gaesong“ oder mal “Kaesong“ – sehr verwirrend für Ausländer, die dann natürlich denken, es handele sich um verschiedene Orte), in einem Pavillon mit einem Modell ähnlich einer „elektrischen Eisenbahn“-Spielfläche. Hierauf sieht man sehr gut die Mäander des Imjingang, also des Imjin River, entlang denen die Grenze verläuft.

Und gleich in der Nähe der Freedom Bridge ist der letzte, allgemein zugängliche Bahnhof auf südkoreanischer Seite, die Imjingang Station. Die Gleise sind kürzlich erst wieder über die Grenze hinweg erneuert worden und seit dem 12.Dezember 2007 fährt täglich ein Güterzug zwischen Gaeseong und Seoul. Denn nahe der Stadt Kaeseong ist seit 2002 ein „Industrial Park“, in dem von nordkoreanischen Arbeiterinnen Kochtöpfe u.a. für Südkorea hergestellt werden.

Es handelt sich dabei um eine Sonderwirtschaftszone, die dem freien Handel dienen soll. Dort haben sich vor allem Klein- und Mittelständische Unternehmen aus Südkorea angesiedelt.

Um unseren Bahnhof herum – denn Dali (nicht gerade einer meiner Favoriten) würde sagen: “Le gare du Imjingak est le centre du monde!“ – ist ein kleines Universum der Diversifikationen. Der „Compass of Hope“, der Pavillon mit dem Glühbirnchen-Landschaftsmodell in einem kleinen Park mit gebündelten Denkmälern (alle kitschig, wenn Sie mich fragen). Ha, besonders bizarr ist ein überlebensgroßer Präsident Truman in seinem bronzenen Anzug mit erhobenem Zeigefinger – die armen Koreaner: eine fast 5000 Jahre alte Hochkultur, in der 1. Hälfte des 20. Jahrhundert von Japanern ausgesaugt & unterjocht, in der 2. Hälfte mit Amiwerten plattgewalzt; da ist so ein Bronzekopp schon die richtige Antwort! Aber die Amis fühlen sich geschmeichelt, oder gar nix, solange nur der Dollar rollt, im ungeheuren Waffengeschäft mit South Korea – aber Nordkorea darf nicht mit Waffen dealen, denn das ist ja ein Schurkenstaat. Im Waffenmuseumsabteil betrachte ich einen Jeep und einen Militär-Pick-up – neben anderen Mordgeräten – aus den frühen 50ern. Von heutiger Ansicht aus – besonders hier im Grenzgebiet – kenne ich die aktuellen Dimensionen dieser Transportmittel und wunderte mich immer beim Betrachten alter Kriegsdokufilme, wieso diese Dinger so klein wirken. Jetzt weiß ich: die waren auch kleiner. Und dann noch ein „Peace Museum“, ein Kirmesplatz, die letzte Dampflok „Mika 3-244“ mit drei Restaurant-Waggons, ein riesiger Parkplatz (Koreaner sind Autofetischisten), eine Aussichtsplattform von der aus man mit montierten Ferngläsern die wieder intakte Eisenbahnbrücke und weitere Eisenbahnbrückenpfeilerstümpfe parallel dazu in den Norden über Stacheldraht verschwinden sehen kann, ein unvermeidlicher „Family Mart“ (Supermarkt), Souvenirläden mit echten nordkoreanischen Likören, einsame Angelplätze, eine buddhistische, riesige Freiheitsglocke, Altäre und auf der gekappten „Freedom Bridge“ über einen blauen Pool in der Form Koreas eine Wand voller Hoffnungsmenetekel. Dazwischen hat sich ein wenig „Moderne Kunst“ angesiedelt und letzten Silvesterabend gab’s hier ein irre großes Open Air Konzert.

Angeblich hätten die „Nordies“ in den 70ern verschiedene Tunnel unter der DMZ gegraben, um heimlich Soldaten nach Süden schleusen zu können. Das muss man sich mal vorstellen: mehrere kilometerlange Tunnel – ich halte dies für eine fabrizierte Angstproduktion der alten Süddiktatur, um die Schäfchen brav gegen die eigenen kommunistischen Brüder einzustimmen. Wir haben hier den Ausgang des 3. Tunnel in der Nähe. Dann gab’s auf beiden Seiten megagroße Lautsprecheranlagen, um Propaganda hin- & her zuschreien. Auf der anderen Seite steht der Welt höchster Flaggenmast (160m), frei nach dem Motto: wer hat den längsten – gut, darin haben sie gewonnen. Panmunjeom, offiziell auch Joint Security Area (JSA), ist der Name einer militärischen Siedlung in der entmilitarisierten Zone, in der von 1951 bis 1953 das Ende des Koreakrieges verhandelt wurde. Es ist seit dem Waffenstillstandsabkommen das Hauptquartier der Military Armistice Commission (MAC), die die Einhaltung des Waffenstillstands überwacht, dort befindet sich die Brücke ohne Wiederkehr. Die wichtigsten Gebäude in Panmunjeom sind drei blaue Baracken mit je einer Tür auf nordkoreanischer als auch südkoreanischer Seite. Durch ihre Mitte verläuft die militärische Demarkationslinie (MDL), de facto die Grenze zwischen Nord- und Südkorea. In diesen Hütten fanden Verhandlungen zwischen beiden Parteien statt. In der übrigen DMZ – also ohne jegliche Militärs und andre Menschen – konnte sich eine naturbelassene Tier- und Pflanzenwelt (Urwald) entwickeln.

Wer der Meinung ist, dass Nordkorea eine riesige Inszenierung sei, der kann sehen, dass es diese um den Bahnhof von Imjingak auch ist, allerdings mit einigen kleinen, aber wesentlichen Unterschieden.

Am Wochenende ist dieses bestaunbare Konglomerat koreanischer Bizarrerien ein beliebtes Ausflugsziel und viele treffen hier ein, um auch eins der umliegenden Aalrestaurants aufzusuchen.

In einem Prospekt dieser Provinz namens Gyeonggi-do – seit der Designation Gaesongs durch König Wanggeon von Goryeo als königliche Hauptstadt, war Gyeonggi-do Mittelpunkt koreanischer Geschichte – fand ich ein Restaurant jenseits des Stacheldrahts, also in der ersten Gefahrzone, die man nur mit Visum betreten darf.

Ich stellte mich dumm und fuhr mit dem Wagen bis an die Grenze, kurbelte elektrisch das Fenster runter und sagte dem schwerbewaffneten Soldaten, dass ich da essen gehen wolle.“ Auf gar keinen Fall. Drehen Sie auf der Stelle um!“ Ich ließ nicht locker und hielt ihm den Prospekt mit der Restaurantskizze unter seine gleißende Sonnenbrille. Er entgegnete zögerlich ungern, ich könne die Leute vom Restaurant anrufen, die würden dann kommen und mich eskortieren. Mach ich das nächste Mal.

Mit historischer Symbolik überquerte am 2. Oktober 2007 der südkoreanische Präsident Roh Moo-hyun die Grenze und die demilitarisierte Zone zu Fuß und nahm am gleichen Tag in Pjöngjang an einem Gipfeltreffen mit Nordkoreas Staatsführer Kim Jong-il teil.

Eigentlich wollte ich mich nur so ein bisschen umschauen und ging dann auch noch in den Bahnhof rein, angelockt von hunderten aufgehängten gelben & rosa Memo-Zettelchen auf denen so jeder seinen Kommentar zur Wiedervereinigung abgeben kann. Da kann man sich vorstellen, was in so demokratischen Köpfen alles vor sich geht. Einer filzte einfach das Profil eines sitzenden Hasen mit Halsband – das Land Korea und seine innere Grenze symbolisierend, neben anderem Schabernack.

Der Ticketschalterraum ist aufgewärmter als der übrige Bahnhofsbereich. Draußen hat es minus sechs Grad, gefühlt. Am Schalter versuch ich eine Auskunft über die neuen Bustouren nach Kaesong zu erhalten. Das steht bei mir als Übernächstes an. Man schiebt mir freundlich eine kleine Broschüre zu mit einer Infotelefonnummer. Ich dreh mich um, die Sonne scheint in die Halle und lässt alle Farben aufblitzen, ich spür den Reiz zu fotografieren. Aber was? Das vergilbte Foto mit dem Schnellzug KTX im Rahmen über den blauen Kofferrollen neben der fleischfarbenen Dieter-Roth-Box? Das Transparent mit den hiesigen Vogelarten doch nicht. Ich spreche den Mann am Schalter nochmal an und versuche eine Bestätigung von ihm zu bekommen, dass es hier noch Adler gibt, denn ich habe welche gesehen, im Flug.

Da kommt ein Zug. Die Leute steigen aus und gehen teils durch diese Halle, da fällt mir endlich dies völlig unscheinbare Billigregal auf, gegenüber von den zwei Schaltern. Voller fremder Bücher. Eine Bahnhofsbibliothek, wie ich sie nur von manchen Seouler U-Bahnhöfen kenne. Die Idee hierbei ist ja wohl, dass sich wartende Fahrgäste mit ein wenig Gratislektüre die Zeit versüßen. Ob man sich ein Buch für die Bahnfahrt ausleihen und es dann eventuell in einer andren Bahnhofsbibliothek wieder deponieren darf, weiß ich nicht. 

Ich lese sowieso sehr langsam und Koreanisch noch langsamer. Na ja, da sind Sachen für Kinder dabei und leichte Kost für Erwachsene, sodann leitkulturelle Abhandlungen und eine Enzyklopädie. Die finde ich immer praktisch. Wenn man z.B. mal grad nicht weiß, was “peripatetic“ heißt, kann man ja gleich nachschlagen. Oder wann der Meteor einschlug, der die Koreabucht hier vor der Tür im Gelben Meer schuf.

Im Band 23 über koreanische Literatur finde ich ein Foto meines Lieblingsdichters Yisang, dessen Gedicht, das nur aus Zahlen besteht, ich vor zehn Jahren in meiner Serie „Tracings“ übermalte. Sein Band „Ogamdo“ („Mogelperspektive“) erschien 1934 zaghaft in einer Tageszeitung und sein sprachspielerisches Moment führte schon in der Redaktionsrunde zu Ärger.“…Das Mädchen war im Boot gewesen – weg von der Menge und dem Schmetterling. Der abgekühlte Wasserdruck – der abgekühlte Luftdruck des Glases lassen dem Mädchen nichts als den Gesichtssinn übrig. So beginnen zahlreiche Lektüren. In zugeschlagenen Büchern oder in irgendwelchen Winkeln der Schreibstube versteckt sie sich gern als ‘etwas Dünnes’. In meine Drucktypen mischt sich Duft von der Haut des Mädchens. In meinem fertig gebundenen Buch sind Spuren vom Bügeleisen des Mädchens verblieben. Nur die sind durch kein noch so starkes Parfum zu verwirren -“ (Yisang)

Tja, “The Life Paradise“! – eine andre Anthologie. Vielleicht warte ich einfach erst mal bis der Governor von Gyeonggi-do diesen Fahrradweg bis nach Gaesong fertiggestellt hat und lese ein wenig weiter in der Imjingang – Bahnhofsbibliothek …

 

A23H, Januar 2008

Viele Fakten aus diesem Bericht sind heute anders.

Die erzkonservative Nachfolgeregierung hat ab 2008 nicht nur den südkoreanischen Präsident Roh Moo-hyun in den Tod getrieben, sondern gleich auch seine von seinem Vorgänger übernommene und erfolgreich fortgesetzte “Sunshine-Politik Nordkorea gegenüber”, mit dem fatalen Ergebnis, dass sich die zwei Bruderstaaten wieder stark in Feindschaften verbissen, und z.B. die Ausflüge nach Gaesong längst vereitelt sind und kürzlich sogar der Industriekomplex Gaesong komplett geschlossen wurde.