Granate für den 42-cm Mörser Dicke Bertha

Die dicke Berta

Am 20.November 1811 gründet der 24-jährige Friedrich Krupp in Essen eine Gussstahlfabrik

In der Napoleonzeit, 1812, dichtete Ernst Moritz Arndt vom „Gott, der Eisen wachsen ließ“, und er fügte hinzu, wofür dieses Metall gebraucht wurde: „Säbel, Schwert und Spieß“. Sie kamen noch nicht aus der Gussstahlfabrik, die Friedrich Krupp kurz vorher, am 20. November 1811, in Essen gegründet hatte. Die Firma lief schlecht und stand zeitweilig am Rand des Bankrotts.

Als Bismarck 1862 die Liberalen des preußischen Abgeordnetenhauses belehrte, nicht durch Reden und Parlamentsbeschlüsse seien die großen Fragen der Zeit zu beantworten, sondern durch Eisen und Blut, mochte er schon an die Flinten und Kanonen von Alfred Krupp denken, mit denen er 1864 gegen Dänemark, 1866 gegen die Habsburger und 1870/71 gegen Frankreich die erste deutsche Einheit herbei schießen ließ. Der Sohn des Firmengründers hatte das Unternehmen in die Höhe gebracht. Waffenproduktion war aber zunächst nur ein Nebenerwerb. Das Hauptgeschäft galt der Bereitstellung von Stahl für den wichtigsten Abnehmer der damaligen Schwerindustrie: die Eisenbahnen. Nach dem Gründerkrach von 1873 war dort der Bedarf allmählich gedeckt. Hatte Alfred Krupp noch als der „Gusstahlkönig“ gegolten, so wurde sein Sohn Friedrich Alfred zum „Kanonenkönig“. Wilhelm II. verkuppelte die Firmenerbin Bertha Krupp mit seinem Diplomaten von Bohlen und Halbach. Eine verhängnisvolle Quelle des Gewinns wurde der Schlachtflottenbau. Er führte dazu, dass der Konflikt mit Frankreich und Russland, der seit Bismarcks Verabschiedung als nur noch schwer vermeidbar angesehen wurde, 1914 tatsächlich auch zum Weltkrieg wurde: durch die Teilnahme Großbritanniens und ab 1917 sogar der USA. Frank Wedekind besang die Folgen: „Seit wir auf den Knopf gedrückt,/ Ist der Erdball ganz verrückt,/ Und am Ende stopft ihn Krupp/ In die dicke Berta – Schwupp!“ Gemeint war ein Riesen-Mörser aus dem Essener Unternehmen.

Die Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrages waren geschäftsschädigend. Von daher versteht es sich, dass der Firmenchef Gustav Krupp von Bohlen und Halbach schließlich Geschmack an der rabiatesten Form der Revision (und auch an der Beseitigung der Republik) fand. Er gehörte zu den Industriellen, die Hitler finanzierten. Im Zweiten Weltkrieg beutete Krupp 100.000 Zwangsarbeiter aus. 1943 sorgte Hitler dafür, dass das Unternehmen von einer Aktien- wieder in eine Personalgesellschaft umgewandelt wurde, wodurch die Familie 400 Millionen Reichsmark Erbschaftssteuer sparte.

Hätte es eine Stunde Null gegeben, wäre 1945 wohl Schluss gewesen mit Krupp. Die Fabriken lagen in Trümmern. Der Firmenchef Alfried Krupp von Bohlen und Halbach wurde 1948 als Kriegsverbrecher zu zwölf Jahren Haft und Vermögensverlust verurteilt. 1969 noch klärte der DDR-Film „Krupp und Krause“ darüber auf, dass die Arbeiterklasse schließlich doch gesiegt hat, und 2002 schilderte Peter Märthesheimer in seinem amüsanten Hörspiel „Krupp oder die Erfindung des bürgerlichen Zeitalters“ Aufstieg und Fall.

Letzterer war aber dann doch nur eine Episode und die Voraussetzung der Wiedergeburt. Die Beschlagnahme der Betriebe durch die Westalliierten bewahrte das Unternehmen vor schneller Sozialisierung durch deutsche Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschafter. Bei Krupp hatte immer der Herr-im-Hause-Standpunkt gegolten. Jetzt, angesichts der Gefahr von Enteignung, Entflechtung und Demontage, suchten die Montanindustriellen den Schulterschluss mit den Gewerkschaften. Für 25 Unternehmen wurde 1947 die paritätische Mitbestimmung eingeführt (in Kraft getreten 1948). Das war zunächst eine Regelung nach alliiertem Recht, aber durch Bundestags-Beschluss folgte darauf das „Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie“ vom 21. Mai 1951. Mit der Montanunion – ebenfalls 1951 – ist die Schwerindustrie an Rhein und Ruhr europäisiert worden. Kurt Schumacher (SPD) sah darin einen nationalen Ausverkauf. Befürchtungen, gerade dieses Aufgehen in einen internationalen Verbund könne ein neues Übergewicht der Besiegten von 1945 herbeiführen, lagen damals noch in weiter Ferne: die Ruhrmagnaten, darunter Krupp, schienen gezähmt. 1951 – der Kalte Krieg setzte andere Prioritäten – wurde Alfried Krupp von Bohlen und Halbach begnadigt, 1953 erhielt er sein Vermögen zurück, nachdem er im Vertrag von Mehlem darin eingewilligt hatte, dass bis 1959 die Berg- und Hüttenwerke vom Unternehmen getrennt werden würden. Er hatte nun wieder die Leitung, aber das operative Geschäft übertrug er – ebenfalls 1953 – dem Generalbevollmächtigten Berthold Beitz. Dieser hatte im Zweiten Weltkrieg in Galizien als Manager einer Erdöl-Firma Hunderten von Juden das Leben gerettet, indem er sie für die Produktion reklamierte. Beitz, nicht Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, war nunmehr das Gesicht der Firma.

Unter seiner Leitung florierte sie wieder. Dass jetzt nur noch Friedensproduktion möglich war, erwies sich als besonders profitabel: hier konnte in Lücken hineinexportiert werden, die die USA, auf die Herstellung von Rüstungsgütern angewiesen, offen lassen mussten. Der Wiederaufbau schuf die Nachfrage für das neue Hauptgeschäft: Anlagenbau. Die Trennung von Hütten und Bergwerken erfolgte schließlich nur pro forma: als Entflechtung, nicht als Verkauf. Krupp blieb der führende Stahlproduzent. 1960 fusionierte er seine Hütten mit dem Bochumer Verein für Gussstahlfabrikation AG.

Der ökonomische Aufstieg der Bundesrepublik verlief parallel mit der Rehabilitation der einstigen Waffenschmiede. Das Ruhrgebiet war in den fünfziger Jahren eine Boomregion. Schon bald nach dem Krieg hingen in den zerstörten Städten der Westzonen Plakate, in denen Bergleute angeworben wurden. Die Kohle, die sie förderten, brauchte auch Krupp. Wenn heute vom „Rheinischen Kapitalismus“ gesprochen wird, ist meist ein sozialpartnerschaftliches Modell gemeint. Doch nicht zufällig wird damit zugleich eine Region genannt: das Bundesland Nordrhein-Westfalen, das zwar bis 1966 meist christdemokratisch regiert wurde, in dem Kapital und Arbeit sich aber nachgerade demonstrativ arrangiert hatten. Die alte Agitation gegen die „Ruhrbarone“ griff nicht mehr so recht. Hatten sie einst die Weimarer Republik bekämpft, verstanden sie sich nunmehr gut mit Adenauer. Sie gehörten zu seiner Basis.

1968 ging der ganze Konzern in eine Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung ein. 1991 wurde die Hoesch AG gekauft, und 1999 fand die Fusion zur „ThyssenKrupp AG“ statt. Die ist – Beschränkung auf zivile Produktion längst passé – der größte deutsche Rüstungskonzern und Stahlhersteller.

Erich Honecker, Oskar Fischer und Günter Mittag zu Gast bei Berthold Beitz, Aufsichtsratsvorsitzender der Friedrich Krupp GmbH, 1987, Foto: Engelbert Reineke/Bundespresseamt (10741)

Erich Honecker, Oskar Fischer und Günter Mittag zu Gast bei Berthold Beitz, Aufsichtsratsvorsitzender der Friedrich Krupp GmbH, 1987, Foto: Engelbert Reineke/Bundespresseamt (10741)

Berthold Beitz, bis 1967 Generalbevollmächtigter, von 1970 bis 1989 Vorsitzender des Aufsichtsrats, war ein früher Osthändler, gern gesehen und viel fotografiert auf den Leipziger Messen. Er sicherte Willy Brandts Außenpolitik die Loyalität der Konzerne, die sich damit alt-neue Geschäftsfelder erschlossen. Und 1987 machte Krause – unter dem Namen Erich Honecker – seine artige Aufwartung in der Villa Hügel. Zwei Jahre später war der Sack zu.

Beitz, 98 Jahre alt, präsidiert heute als Mäzen und Stifter der Umwandlung des Ruhrgebiets in eine rauchlose Kultur-Region. Die Bücher der Villa Hügel bildeten die Erstausstattung der Universität Bochum. Zu Kaisers Zeiten hatte es im Ruhrgebiet keine Hochschulen gegeben. Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts begleiteten ihre zahlreichen Gründungen die Umstrukturierung.

Es liegt in der Staatsraison der Bundesrepublik, sich in symbolischer Politik von der Kriegs- und Verbrechenspolitik des Deutschen Reiches zu distanzieren, dessen ökonomisches Erbe aber nicht auszuschlagen, sondern zu mehren und in eine neue „Erzählung“ (Peer Steinbrück) – nämlich die des „Westens“ (Heinrich August Winkler) – einzubringen. Das passt zu Krupp. Es ist eben ein altes, aber auch heute noch präsentes besonders deutsches Unternehmen.

Georg Fülberth in Der Freitag Nr. 44, 1. 11. 2011