Geglücktes Wagnis

Ein Resümee von Georg Fülberth

Man hätte von Anfang an genauer hinhören sollen. »Wir wollen mehr Demokratie wagen«: So sprach Bundeskanzler Brandt in seiner ersten Regierungserklärung 1969. Was könnte er wohl gemeint haben? Die Demokratie stand schon seit 1949 im Grundgesetz, aber es war nicht so viel daraus geworden, wie dem Wortlaut nach möglich gewesen wäre. Sie wurde unter anderem durch das politische Strafrecht eingeschränkt, Arbeitsgerichte hatten den politischen Streik für illegal erklärt, die Kommunistische Partei war verboten. Wenn jetzt solche Hindernisse beiseite geräumt werden sollten: schön. Aber warum nannte Brandt dies ein Wagnis? Darum: Er sprach als Obrigkeit, die Demokratie dosiert verabreichen wollte – nicht die ganze sollte es sein, sondern eben nur »mehr«. Ihre Grenzen wurden gleich mitgeliefert.

Die damalige sozialliberale Koalition hatte drei Aufgaben: Erneuerung der Infrastruktur, Erschließung der östlichen Märkte für westdeutsche Exporte, Öffnung eines Schleichweges zur kapitalistischen Wiedervereinigung, nachdem 1961 durch die Mauer Adenauers Versuch einer schnellen Reconquista gestoppt worden war. Eine vorläufige Anerkennung der DDR und der Oder-Neiße-Linie war hierfür nützlich. Diese Ziele wurden auch von CDU und CSU hingenommen, wenngleich teilweise nur klammheimlich. Wegen der Grenzen allerdings hätte es Ärger mit den Vertriebenenverbänden gegeben, deshalb sollten in dieser Angelegenheit lieber die Sozis sich die Hände schmutzig machen.

Damit sie danach möglichst schnell wieder abgelöst werden konnten, musste sofort Opposition gemacht werden. Als geeignetes Thema hierfür erwies sich die Innere Sicherheit. Der Auftritt der RAF führte zur Forderung an die Regierung, sie solle Härte zeigen. Brandt erklärte, man müsse ihn nicht zum Jagen tragen. Aber die Union verlangte mehr: Der Öffentliche Dienst werde von Verfassungsfeinden belagert, die müssten draußen bleiben.

Gemeint waren junge Leute, die von der Apo politisiert worden waren und nun Lehrerinnen und Lehrer werden wollten. (Das war damals der akademische Durchschnittsberuf wie vorher Jurist und heute BWL.) Nach konservativem Verständnis gehörten Akademiker zur Elite, und 1968 waren Teile von ihr desertiert. Diese Betrachtung war etwas oberflächlich, denn sie verkannte einen Tiefenprozess: das Anwachsen der Intelligenz zur Massenschicht. Hier wurde die SPD aufmerksam: Nach Godesberg hatte sie sich dieses Potential allmählich erschlossen, und sie wollte es nicht verlieren. Die 1968 gegründete DKP war einige Zeit attraktiv für die Unipopulation geworden. Wenn bei der SPD etwas funktioniert, dann ist es der Reflex gegen linke Organisationskonkurrenz.

Aus dem Grab heraus meldete sich der Genosse Gustav Noske und gab Folgendes zu bedenken: Die Führung der DKP war fest mit der DDR und der Sowjetunion verbunden. Wenn sie hierfür nun eine Massenbasis für die so wichtig gewordene Intelligenz gewann, dann war das nicht nur ein Problem für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, sondern auch für den Staat, also Sache der für seinen Schutz verantwortlichen Ämter.

Gesagt, getan. 1971 begann der sozialdemokratisch geführte Senat in Hamburg, kommunistischen Lehramtsbewerber(inne)n den Weg ins in die Schulen zu versperren. Im gleichen Jahr lehnte es der Wissenschaftssenator Moritz Thape in Bremen ab, das DKP-Mitglied Horst Holzer an die Universität Bremen zu berufen. Ernest Mandel durfte nicht Professor in Westberlin werden (zuständig: Senator Stein, SPD). Der Innenminister Genscher (FDP) verbot ihm sogar die Einreise in die BRD. Auch in Bayern und etlichen CDU-Ländern ließ man Linke nicht in den Staatsdienst, aber dort gab es nicht so viele verdächtige Bewerber(innen), und außerdem war es dort halt das Übliche, während in den sozialdemokratisch regierten Regionen noch ein symbolpolitischer Knalleffekt hinzukam.

Bei derart einheitlicher Praxis wäre eine weitere Absprache gar nicht nötig gewesen. Damit es aber alle hören und sehen konnten, trafen sich am 28. Januar 1972 alle Ministerpräsidenten mit dem Bundeskanzler und stellten noch einmal fest: »Gehört ein Bewerber einer Organisation an, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, so begründet diese Mitgliedschaft Zweifel daran, ob er jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eintreten wird. Diese Zweifel rechtfertigen in der Regel eine Ablehnung des Anstellungsvertrages.« Das war der sogenannte Radikalen- oder Extremistenerlass.

Die Praxis, die am 28. Januar 1972 nicht ins Leben gerufen, sondern nur bestätigt wurde, war älter als die sozialliberale Koalition. 1950 gab es schon den sogenannten »Adenauer-Erlass«. Er zählte dreizehn Organisationen – elf linke und zwei faschistische – auf, deren Mitglieder aus dem Öffentlichen Dienst zu entlassen oder diesem von vornherein fernzuhalten waren. Die Bezeichnung stimmt nicht ganz. Es war nicht nur eine Tat Adenauers, sondern auch seines Innenministers Gustav Heinemann, damals noch CDU-Mitglied. Zu Kaiser Wilhelms Zeiten kannte man die »Lex Arons«, benannt nach einem Physiker und Erfinder einer Quecksilberdampflampe, der nicht Privatdozent bleiben durfte, denn er war Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. Und 1933 verkündeten die Nazis das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«.

Zurück in die Ära Brandt. Nunmehr wurde die »Regelanfrage« eingeführt. Wer in den Staatsdienst wollte, wurde vorher vom Verfassungsschutz gescreent. Insgesamt geschah das 1,4 Millionen Mal; 1.250 Bewerber wurden abgelehnt, 136 Personen entlassen. Schwerpunkt waren die Schulen, aber es gab auch Berufsverbote bei Bahn und Post, bei letzterer sogar besonders heftige: Briefsortierer und -zusteller, die schon längst Beamte auf der untersten Stufe waren, wurden wegen DKP-Mitgliedschaft entfernt.

Die beiden Annahmen, auf denen die Radikalenverfolgung beruhte, erwiesen sich als falsch. Erstens: Wegen ihrer Fixierung auf die UdSSR und die DDR konnte die DKP die Intellektuellen auf Dauer nicht halten. Zweitens: Spätestens nach der Installierung neuer Mittelstreckenraketen in Europa 1983 war die Sowjetunion gar nicht mehr so bedrohlich, wie es lange ausgesehen hatte.

Seit Beginn der Lehrerarbeitslosigkeit in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre erwies es sich auch gar nicht mehr als nötig, dass sich die Einstellungsbehörden mit politischen Ablehnungsgründen blamierten: Wurde jemand nicht genommen, lag es eben einfach am Überangebot von Bewerbungen. Um 1980 herum wurde zunächst in den sozialdemokratisch regierten, dann in allen anderen Ländern (zuletzt 1991 in Bayern) die Regelanfrage wieder abgeschafft, »Bedarfsanfragen« aber bleiben weiterhin möglich. In Niedersachsen gab es danach noch ein paar besonders harte Berufsverbote. 1995 befand der Europäische Menschenrechtsgerichtshof, dass die Lehrerin Dorothea Voigt, die in den vorangegangenen Instanzen vom Rechtsanwalt Gerhard Schröder vertreten worden war, in diesem Land wieder einzustellen sei. Als Annette Schavan in Baden-Württemberg ein Berufsverbot gegen den Antifaschisten Michael Csaszkóczy verhängen wollte, entschied 2007 ein Gericht in Karlsruhe für ihn.

Schon der späte Willy Brandt soll irgendwann gemurmelt haben, die Sache mit dem sogenannten Radikalenerlass sei wohl ein Fehler gewesen. Er irrte. Die Maßnahme hatte durchaus eine beabsichtigte Wirkung. Nach 1972 rieten so manche besorgten Eltern ihren radikalen Kindern, sie sollten es doch lieber mit Umweltschutz versuchen. Vorsicht zog bei den jungen Leuten ein. Die SPD hatte allerdings nichts davon: Zwar war nicht die DKP die Generalvertretung der Massenschicht der Intelligenz geworden, dafür wurden es die Grünen.

Mit ihrer Anpassungspädagogik gehört die Entschließung von 1972 ebenso wie die Vorgängeredikte durchaus zu den konstituierenden Dokumenten der deutschen Staatsräson.

Georg Fülberth in KONKRET 1/2012