Ein wunderbarer Tag 

Mit seinem Buch „Sozialrebellen“ von 1959 erschrieb sich Eric Hobsbawm ein Publikum, das sich von Generation zu Generation erneuert. Jugendliche Autonome und andere Linksradikale sehen anhand dieses Textes, dass es doch wohl kein Fehler war, lesen gelernt zu haben. 1994 zog Hobsbawm mit „Age of Extremes“ (dt. „Das Zeitalter der Extreme“, 1995) die Summe des „Kurzen Zwanzigsten Jahrhunderts“ (1914 – 1991). Wieder ein Kultbuch: Wer im Kalten Krieg dabei war, begreift sich im Nachhinein besser und sieht, was war, was unterging und was bleiben könnte.

Davor, dazwischen und danach gab es noch Anderes und Vieles:

1917 als Kind jüdischer Eltern in Alexandria geboren, wuchs Eric Hobsbawm in Wien auf, kam 1931 nach Berlin und kann sich heute noch an den kalten Wintertag 1933 erinnern, als ein Extrablatt Hitlers Ernennung zum Reichskanzler bekannt gab. Da war der Junge schon Kommunist im „Sozialistischen Schülerbund“. Ab 1933 in Großbritannien, wurde er einer der studentischen Aktivisten im „Roten Cambridge“. Nach der Rückkehr vom Kriegsdienst hatte er es zunächst beruflich schwer. Für ein erstes großes Buch fand er keinen Verlag, Professor wurde er erst 1971, mit vierundfünfzig. Immerhin konnte er im Birkbeck College an einer Art Abendschule für Berufstätige, der Londoner Universität attachiert, lehren. Unter dem Pseudonym Francis Newton schrieb er Jazz-Kritiken. Mit jungen Historikern der britischen KP gründete und betrieb er die Zeitschrift „Past and Present“.

Über die Jahrzehnte hin entstand seine dreibändige Geschichte des „Langen Neunzehnten Jahrhunderts“ (1780/1789 – 1914), die wohl ebenso wenig jemals durch neue Forschungsergebnisse wird überholt werden können wie Theodor Mommsen „Römische Geschichte“ (1854 – 1856). Letzterer erhielt dafür übrigens 1902 den Literatur-Nobelpreis. Vielleicht wäre es an der Zeit, dass nach 110 Jahren diese Auszeichnung wieder an einen Historiker fällt und die rituelle, aufgrund von politischem und nationalem Proporz angestellte Suche nach irgendwelchen Dichtern einmal Pause hat. Hobsbawm selbst würde, was seine Person angeht, wohl eher darauf verweisen, dass man diese Gelegenheit leider habe vorübergehen lassen: er bewunderte seinen Freund Fernand Braudel (1902 – 1985) von der französischen „Annales“-Schule.

Auf ein besonderes Kleinod ist hinzuweisen:

Seit 1942 gibt es in der BBC die Sendung „Desert Island Discs“. 1995 wurde Eric Hobsbawm dort von Sue Lawley interviewt. Er brachte seine Lieblingsplatten mit, begann mit Charlie Parker, bedauerte, dass Johann Sebastian Bach nicht die „Internationale“ vertont habe und bot als Beleg dafür, was dadurch versäumt wurde, „Ein feste Burg ist unser Gott“ an. Gefragt, wie viele Menschen aus seiner Familie in Hitlers Lagern umgekommen seien und wie er sich zu Stalins Terror verhalten habe, gab er Antworten, die der Interviewerin die Sprache verschlugen. Sie verlangte nur noch: „More music“. Eric Hobsbawm ließ Schubert auflegen, das Adagio Op. 163 in einer

Aufnahme mit Pablo Casals, Isaak Stern u.a., und kommentierte: das passe („fits in“) zu seinem düsteren Kommentar („rather gloomy note“) und zeige, dass „the world is a place of deep emotions, but not necessarily of fun“. Wer danach beim Anhören nicht wenigstens sekundenlang abstürzt, dem ist nicht mehr zu helfen. Sue Lawley ließ nicht locker: Warum er denn 1956, als viele gingen, in der Kommunistischen Partei geblieben sei. Hobsbawm: „I deed not wish to deny the whole of my life“ – er wollte nicht sein ganzes Leben durchstreichen. Und er wollte niemand Anlass zu der Verdächtigung geben, er habe es sich beruflich leichter machen wollen. Mittlerweile nervt ihn die immer wieder gestellte Frage. In seinen Memoiren von 2002 mit dem Understatement-Titel „Interesting Times“ (vom deutschen Verlag leicht aufgedonnert: „Gefährliche Zeiten“) behandelt er seinen Stolz von damals wie eine Art Hoffart und bittet kokett um Nachsicht für diese.

Neuerdings wird er in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Deutschland“ als Unverbesserlicher angerempelt. Er sei ein besonders eleganter sowjetischer Einfluss-Agent gewesen. Selbst in einem Geburtstagsartikel diese Woche meinte ein Autor in ihrem Feuilleton ihm Häme nachwerfen zu müssen. Ein gutes Zeichen. Da ist einer lebendig und wird auch in Zukunft noch wirken. Wer die Gegenwart erklärt haben will, läuft ihn an, in immer neuen und frischen Interviews.

Es ist der 9. Juni 2012. Er wird fünfundneunzig. Ein wunderbarer Tag. Wer Eric Hobsbawm gratuliert, beglückwünscht zugleich sich selbst dazu, sein Zeitgenosse zu sein.

Georg Fülberth,  junge Welt Nr. 133. 9. Juni 2012

Bild: Screenshot einer website mit einem Foto von Eric Hobsbawm : The Telegraph

 

 

 

Bild Teaser: Ausschnitt Cover des Buches: Zwischenwelten und Übergangszeiten, erschienen im Papy Rossa Verlag, Köln 2001