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Man müsste einen Begriff haben von der Natur. Ja, das müsste man. Ist Natur das, was ist, ohne dass der Mensch es gemacht hat? Oder alles das, was man beobachten kann, ohne eine Bildermaschine dazwischen? Wenn man die Natur näher ansieht, schaut sie, nein, nicht: ferner, sondern eher kleinteilig zurück. Belebte und unbelebte Natur, natürliches und unnatürliches Verhalten, Naturschutzpark, natürlich gewachsene Weihnachtsbäume, naturidentische Inhaltsstoffe. Natur, könnte man vielleicht sagen, ist schon deswegen immer in Gefahr, weil sie zur Sprache gebracht wurde.

Der Mensch, der ein Teil der Natur ist, und die Natur, die zu einem Teil des Menschen wird, diese Marx‘sche Dialektik war ein Versprechen, das sich als Bedrohung verwirklicht hat. Wenn Geschichte nichts anderes als das „Werden der Natur für den Menschen“ wäre, wie Marx das gemeint hat, dann müssten wir uns diesen als glücklichen vorstellen (weniger im Sinne des Kleingartenbesitzers als in dem des Sisyphos). Aber wie kann die Natur für den Menschen werden, wenn so wenig der Mensch für den Menschen wird? Da es eben den Menschen, für den Natur werden sollte, nicht gibt, kann es Natur nur im Zustand des Verschwindens geben. Die allgemeine, intensive Erfahrung von Natur ist die ihres Verlustes.

Die Natur, die physis, das war bei den Griechen einfach die Gesamtheit jener Dinge, die von selbst entstanden sind („die Schöpfung“ im christlichen Narrativ). Es sind die Dinge, auf die kein Mensch, keine Gruppe, kein Volk, keine Klasse, kein Unternehmen Rechte hat außer jenen, die man mit Gewalt erwirbt. Die Verwandlung der Natur in Besitz einerseits und die Verwandlung der Natur in Rohstoff andrerseits, das sind zugleich die Motoren und die Verbrechen der Geschichte – und weder der Marxist noch der kapitalistische Calvinist konnten, anders als in rhetorischen Liturgien, den verbrecherischen Anteil an der Dialektik von Natur und Mensch aufheben. Natürlich haben diese Aneignungen, einerseits durch Staat, Regierung, Feudalherrschaft und Landwirtschaft, andrerseits durch Kapital, Technologie und Verkehr höchst unterschiedliche Ausformungen, und nur eine allfällige Menschheitskatastrophe (Atomwaffen oder Zombie-Apokalypse) könnte den Rest von uns tatsächlich wieder auf einen Status bringen, in dem wir die Welt als „Naturzustand“ akzeptierten.

Jenseits von Aneignung und Entfremdung ist „Natur“ ein Produkt von Historizität. Eindeutig ist Natur für mich nicht das, was sie für meine Eltern war, und meine Kinder verstehen unter Natur längst etwas anderes, wenn sich auch durch unsere Natur-Phantasmen konstante Elemente ziehen oder andere nach gewissen Latenzphasen wieder an Bedeutung gewinnen: Ein Do-it-yourself-Punk und ein „Wandervogel“ könnten sich wohl prächtig verstehen. Also produziert einerseits Geschichte sich durch die ständige Umformung der Ur-Natur, erschafft aber zugleich ständig neue Naturen. Im Steampunk etwa wird industrielle Vergangenheit so behandelt wie andernorts romantisch verlorene Natur. Der Übergang ist aber auch alltäglich fließend: So empfinden wir uns inmitten der Natur, wenn wir über eine Almwiese gehen, ohne allzu viel darüber nachzudenken, dass die Wiese keineswegs ohne das Eingreifen des Menschen zu denken wäre. Die von einer wie auch immer gearteten Ur-Natur abgeleiteten Naturen beziehen sich demnach hauptsächlich auf gute oder böse, schöne oder hässliche Eingriffe. Natürlich ist die Vorstellung vom Menschen, der „im Einklang mit der Natur“ lebt, liebenswert kindlich bis gefährlich reaktionär, denn die Definition solchen Einklangs ist ohne Ideologie so wenig zu haben wie ohne strafendes Gesetz.

Vielleicht ist es möglich, von drei „großen Kränkungen“ der Natur (und damit von den Kränkungen des Menschen selber) sprechen. Die erste Kränkung der Aneignung: Blut, Elend und Ausbeutung im Kampf um den Besitz des Landes – und wir brauchen keine Immobilienkrise, um zu verstehen, dass sich Blut, Elend und Ausbeutung noch im Kampf um das Einfamilienhäuschen in Suburbia fortsetzen, das neben dem nicht minder demokratisch-destruktiven Automobil Freiheit und Ideal des Kleinbürgers, womöglich seinen Lebenssinn bildet und dabei in tragikomischer Verquickung Natur „fressen“ muss.

Der Kränkung der Aneignung folgt die zweite Kränkung von Ausbeutung und Zerstörung (auch um diese zu erkennen benötigen wir nicht wirklich noch eine Ölkatastrophe). So wird die Umweltkatastrophe viel mehr als eine strukturell unvermeidliche Katastrophe im Kampf des Kapitals gegen die Natur: Sie ist symbolische Politik. Sie vernichtet Natur in aller Regel dort, wo sie noch entweder „unberührt“ oder im „Allgemeinbesitz“ war. Durch jede neuerliche Umweltkatastrophe steigt der Wert jener Natur-Reservate, die sich die Gewinner angeeignet haben, und es sinkt der Wert allgemeiner Natur als Gegenpol zum Konsum- und Mediendasein.

Und schließlich liegt die dritte Kränkung der Natur (wie wir sie mit Marx in einer Dialektik mit dem Menschen sehen) in der Lektüre selbst, die sich längst nicht mehr mit klassisch-mechanischer Anschauung begnügt, der Freude der Entdeckung sogleich den Profit anhängt. Die Wissenschaft betreibt nun eine eingreifende Lektüre; es genügt nicht, die DNA zu „entschlüsseln“, nicht einmal bei Prävention und „Heilung“ bleibt man stehen. Es gilt als ausgemacht: Frankensteins Erben werden nicht ruhen, bis sie Leben erschaffen haben, entweder in der Form einer zweiten Schöpfung aus der Retorte oder in der Form einer Parallelschöpfung aus Mischwesen von Organ und Maschine, Virtuellem und „Realen“ etc.

Mit der ersten Kränkung verabschieden wir uns (ein für allemal) aus dem Paradies: der Mensch, der im Garten wohnt, den die Götter für ihn geschaffen haben, lebt hier nicht mehr. Mit der zweiten Kränkung verabschieden wir uns bereits von einem Konzept der Natur als einer Welt, die dem Menschen zur Verfügung steht (statt zur Bühne der Physik der Macht zu werden). Und in der dritten Kränkung verabschiedet sich der Mensch von seiner eigenen Natur, die er zuvor nach der Logik der Arbeit der Logik des Kapitals unterworfen hat. Die wahre Natur des Menschen, das wird man nicht nur an der Wall Street unterstreichen, ist Geld. Oder anders herum: Wenn die wahre Natur des Menschen sich in Geld ausdrückt, wäre die dreifach gekränkte Natur ohnehin nicht zu retten. Allerdings: Auch die Natur des Geldes ist historisch.

All das, was da geschieht zwischen Mensch und Natur, wird von den einen als Fortschritt und von den anderen als Entfremdung bezeichnet. Natürlich haben beide Recht und irren beide gründlich. Es liegt in der Natur des Menschen, die Natur und vor allem seine Natur zu überwinden. Der Mensch will, so scheint es, künstlich werden, nur haben sich leider nicht allzu viele Hoffnungen darein erfüllt, er werde, je künstlicher er sei, nun auch besser oder wenigstens glücklicher. Im Gegenteil: Noch in kleinster Münze in unserer Biografie als Bürger kommt dem Augenblick eines „Zurück zur Natur“ der größte Glücksmoment zu. Die Natur ist ja immer nur zu haben als die Mischung jenes Schönen und jenes Grauenvollen, dem wir in der Flucht ins halbwegs gesicherte Mittelmaß technisch-staatlicher Kontrolle entkommen sind. Deshalb haben die kommerzialisierten und medialisierten Gesten des „Zurück zur Natur“ entweder etwas extrem Hysterisches an sich (Extremkletterer und Survival-Techniker) oder etwas nicht minder extrem Langweiliges (Naturbilder im Fernsehen). „Echte“ Natur also findet sich allenfalls in Nischen, als Spur, die man, womöglich inmitten der Ödnis der Städte, nicht verrät, weil sie allein schon durch die Mitteilung wieder in Gefahr geraten muss. Kulturell gesehen macht Natur einsam.

Jenseits aller Definitionen lauert die Frage: Wem gehört die Natur? Politisch gesehen scheint es sehr einfach: Alles, was Probleme macht an der und in der Natur gehört uns allen (wir alle sind verantwortlich für die Natur, diesen Slogan kennen wir sehr gut). Was indes Lust und Glück an der Natur ist, das gehört wenigen (und immer weniger gehört niemandem, beziehungsweise allen). Was indes verwandelt wird in Industrie und Alltag, das spaltet die Natur: Profit für die wenigen, Dreck für den Rest. Vielleicht liegt es in der Natur des Menschen, sich zu unterwerfen. Vielleicht aber auch, sich nicht endlos, endgültig und umfassend zu unterwerfen. So mag es durchaus die Morgenröte einer neuen Bewegung geben: Wir nehmen uns die Natur zurück, die man uns genommen hat. Welche Natur? Eben die, die zum Menschwerden da ist.

Autor: Georg Seeßlen