Der Käfer Mensch

Als Franz Kafka im Sommer des Jahres 1912, begleitet von Max Brod, Weimar besucht, da verliebt er sich ein wenig. Ausgerechnet in die Tochter des Mannes, der für die Ordnung sorgt in Goethes Haus, die er dort traf. Ein größerer Gegensatz als Goethe und Kafka ist kaum denkbar: Der lichthelle Welterklärer, der nachtdunkle Weltverzweifler. Doch Franz Kafkas Gegenpol war nicht der alte Mann aus Weimar. Es war ein alter Mann aus Prag.

Selten hat eine misslungene Erziehung, verbunden mit einer entsprechenden Disposition des Zöglings, solche weltliterarischen Folgen gezeitigt. Dem Kind, dem jungen Mann, muss sein Prager Elternhaus so erschienen sein, dass es sich nur beschreiben ließe durch ein Wort, das es damals noch nicht gab: kafkaesk. Hier entstand der Erfahrungswert dieses Codes, der Gültigkeit besitzt bis heute. Denn die dunkle Bedrohung, kaum beschreibbar in ihren konkreten Manifestationen aber sehr fühlbar in ihren herzabdrückenden Signalen; das Gefühl hilflosen Ausgeliefertseins an Urteile, gegen die  Einspruch kaum möglich scheint,  weil der Richter unbekannt bleibt: Dieses Empfinden von Hilflosigkeit bleibt, auch unter sozial komfortablen Bedingungen, Teil der psychologischen Erfahrung des Menschen. Und Franz Kafka hat dieser Erfahrung einen Namen gegeben und eine Form, das gibt ihn seinen Rang. Seine drei Schwestern wurden in deutschen Konzentrationslagern ermordet, seine beiden Brüder starben als Kleinkinder, er war nie verheiratet, er hatte nie eine erfüllte Beziehung, er hinterließ keine Kinder: Als wollte eine unbekannte Macht auf diese makabre Weise dekretieren, welche unwiederholbare Persönlichkeit dieser Schmerzensmann war.

Den Schriftsteller Franz Kafka gäbe es nicht, nicht, so wie wir ihn kennen, ohne seinen Freund Max Brod, dessen wichtigste Lebensleistung, obgleich selbst Schriftsteller, eine Art von Verrat an seinem Freund ist. Als Kafka am 3. Juni 1924 bei Wien stirbt, es ist eine offene Tuberkulose, da beauflagt er Brod testamentarisch mit der Vernichtung aller ungedruckten Werke, darunter die großen Romane „Der Prozess“, „Das Schloss“ und „Amerika“. Der Titel ist von dem späteren Herausgeber Max Brod, der den Wunsch des toten Freundes ignoriert und ihn so in die Unsterblichkeit verhilft.

Wer Franz Kafka verstehen will muss nicht jedes seiner Bücher lesen, sie sind einander ähnlich in ihrer Grundgestimmtheit, aber den, nie abgesandten „Brief an den Vater“ von 1919. „Mein Schreiben“, schreibt Kafka in diesem Brief, „Mein Schreiben handelt von Dir. Ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte.“ Es gibt wohl wenig Dokumente, die den Impuls eines großen Schriftstellers so authentisch beschreiben wie dieser Brief. Bis in die Details der Erzählungen hinein. „Man wurde“ schreibt der Sohn dem Vater „gewissermaßen schon bestraft, ehe man noch wusste, daß man etwas Schlechtes getan hatte.“ Der Verurteilte „In der Strafkolonie“, der sein Urteil nicht kennt, nicht einmal sein Vergehen, und dem doch das Gebot, gegen das er verstieß, blutig in die Haut geschnitten werden soll. Und der Traum, der unerfüllte Traum, des beobachtenden Reisenden: Wie diese Macht zerfällt, wenn einer „Nein“ zu sagen vermag; wie der Richter und Henker sich selbst das von ihm gebrochene Gebot –„Sei gerecht“ -, in die Haut ätzen will, wie die Blutmaschine endlich den Dienst verweigert und der Reisende diesen Ort verlässt. „Das Urteil“, das der Vater über den Sohn verhängt. „Ein Bericht für eine Akademie“, darin ein Affe seine Menschwerdung berichtet. Wie er die eklen Gewohnheiten der Leute vom Schiff annimmt, wie er die Pfeife raucht und den Schnaps trinkt, nicht um die Freiheit zu gewinnen, die wäre nur im Tod, aber wie er sich den Leuten vom Schiff anverwandelt, um sie zu bewegen, den Käfig zu öffnen. Franz Kafka arbeitete, als promovierter Jurist, von 1908 bis 1922 in der „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen“. Ein Leben, wie von allen gewünscht. Allen, außer ihm. Aber so hielten sie ihn für einen der ihren. Der Affe, der ein Mensch werden will. Der Mensch, der ein Tier werden muss.

Die Literaturwissenschaft datiert Kafkas Selbstfindung auf das Jahr 1912 und dem in wenigen Stunden geschriebenen „Urteil“. In die Weltliteratur aber schreibt er sich, 32 Jahre alt, 1915 mit einem der berühmtesten ersten Sätze, die je gedruckt wurden: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“. Diese „Verwandlung“ schuf eine Metapher für die Hilflosigkeit des Käfers Mensch, die Unabweisbarkeit ergangener Urteile, die Einsamkeit der so Verurteilten, das seither zum Bildergedächtnis der Menschheit gehört.

Franz Kafka schreibt eine Sprache, die scheint nüchtern und schlicht, als wären das alles Berichte für Akademien. Wer sie genau liest, der erkennt die artifizielle Kraft darin – und den menschlichen Schmerz.

Vieles von und um diesen deutschen Juden aus Prag lässt sich erklären. Allerdings, was sich vollkommen erklären lässt, das ist selten so vollkommen, wie Kafka es ist. So bleibt ein Rest. So bleibt Franz Kafka doch – kafkaesk.

Autor: Henryk Goldberg