Als Jesus Christus, dessen Auferstehung zu Ostern gedacht wird, zu dem Gelähmten die Worte sprach „Steh auf, nimm deine Tragbahre, und geh nach Hause!“ (Matthäus 9,6) da erhob sich dieser und tat also. Sind wir Menschen dabei, uns gottgleich zu erheben? Die Debatte um die Präimplantationsdiagnostik (PID) scheint diese Frage zu stellen.
Vor wenigen Tagen gab es im Bundestag die erste Lesung, bis zum Sommer wird eine Entscheidung fallen. Die Haltung der Abgeordneten orientiert sich, anders als sonst, nicht an ihren Parteien, sondern wohl tatsächlich an ihrem Gewissen. Es gibt drei Gesetzentwürfe, getragen jeweils von Mitgliedern aller Fraktionen. Zwei dieser Entwürfe lassen die PID in begründeten Fällen zu, einer will sie vollkommen und unter allen Umständen ausschließen.
Es geht darum, außerhalb des Mutterleibes (in vitro) befruchtete Eizellen in den ersten Tagen nach der Verschmelzung auf genetische Defekte zu untersuchen und gegebenenfalls dann nicht in die Gebärmutter zu implantieren. Auf diese Weise könnten schwere genetische Schäden, etwa ein Down-Syndrom, vermieden werden, indem, zugespitzt formuliert, der potenziell davon betroffene Mensch vermieden wird.
Oder getötet?
Diese Frage betrifft eine Wertsetzung, wie sie grundhafter nicht sein kann. Und wer sie erwägt ist gut beraten, die jeweils andere Haltung zu respektieren. Die Argumente beider Seiten sind durchaus gleichrangig und es wird am Ende auch kein durchdringendes Argument geben. Hier werden Grundüberzeugungen angesprochen.
Soll der Mensch, so ließe sich fragen, wissen dürfen, was er wissen kann oder gibt es so etwas wie einen moralischen Datenschutz? Einen Datenschutz, der es einer Frau verbietet, zu erfahren dass sie ein schwer geschädigtes Kind zu Welt bringen würde? Die Erfahrung der
Geschichte steht dafür, dass Menschen eines Tages immer wissen werden, was sie wissen können. Die Frage ist also, wie eine Gesellschaft damit umgeht, wie sie sich vorbereitet.
Niemand vermag zuverlässig die Perspektiven von Stammzellenforschung und Gentherapie zu beschreiben, die die gleiche Problematik tangieren. Die Möglichkeit allerdings, dass ein Gelähmter sich eines Tages ohne göttlichen Beistand erheben und gehen könnte, dass ihm Tausende, Hunderttausende folgen, ist ein solch hochrangiges Ziel, dass es schwer vorstellbar erscheint, die Menschheit könnte sich darauf verständigen, nicht alle Wege dahin zu erkunden. Es erscheint nicht nur schwer vorstellbar, es erscheint sogar, jenseits aller Moral, in Betrachtung der Eigendynamik von Geschichte, als naiv und absurd.
Was wäre der Preis? Der Preis ist eine Bereitschaft, die ihre Gegner auch Skrupellosigkeit nennen können: Zu akzeptieren, dass Leben an seinem Anfang einer definierenden Verfügbarkeit unterworfen ist.
Im Grunde geht es um die Frage, wann der Mensch beginnt, wann ihm also eine Würde und eine Unantastbarkeit zuzusprechen sind. Dieser Beginn des Lebens ist, so zynisch das klingen mag, eine moralische Vereinbarung der Gesellschaft. Wer eine solche Abstufung ablehnt, die
in unserer Gesellschaft gesprochenes Recht ist und gelebte Praxis, wie die Rechtswirklichkeit des Paragrafen 218 zeigt, wer eine solche Abstufung ablehnt, für den beginnt das Leben im Augenblick der Verschmelzung. Diese Wertsetzung ist nicht zu entkräften, sie ist nur zu akzeptieren oder abzulehnen. Der Autor glaubt, dass eine fundamentalistische Ethik nicht zukunftsfähig ist, die keinen Unterschied kennt zwischen einer vier Tage alten Zellbildung und einem vier Jahre alten Menschen, die also die Potenzialität des Lebens in jeder Stufe ausnahmslos schon für das Leben selbst nimmt.
Wie sehr es hier um ein Grundsätzliches geht, offenbart schon der Umstand, dass die Pränataldiagnostik (PND), die Untersuchung im Mutterleib, erlaubt ist, auch mit der im Falle einer schweren Schädigung, möglichen Konsequenz der Abtreibung. Was, etwas schlicht gesagt, bedeutet, es ist rechtlich und moralisch erlaubt, einen entstandenen Konflikt zu lösen, nicht aber, seine Entstehung zu verhindern.
Zwei Fragen lassen sich nicht beantworten. Man wird schwer Behinderten das Gefühl nicht wegargumentieren können, es gäbe nun eine Möglichkeit und ein Interesse, sie künftig zu vermeiden. Und niemand weiß, ob die Perspektiven der PID in 100 Jahren zu Züchtungen im Menschenpark führen – aber diese ferne Horrorvision, wenn sie denn angelegt ist, würde nicht verhindert durch ein heutiges Gesetz.
Bis dahin aber könnte ein Gesetz, mit klaren Restriktionen, viel menschliches Leid verhindern. Irgendwann wird dem ersten Menschen ein im Labor gezüchtetes Herz transplantiert, irgendwann wird der erste Querschnittsgelähmte aufstehen, und das wird kein Gott bewirkt haben, nur der unaufhaltsame Drang des Menschen. Denn der ist Teil seines Lebens.
Text: Henryk Goldberg
Text erschienen in Thüringer Allgemeine
Bild: Embryonen im 2- und 4-Zellen-Stadium
Urheber: Minami Himemiya (unter der Creative Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported lizenziert)
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