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Aysel Alvers Skulptur „pity pity“ (2014) auf der 3. Mardin-Biennale. Foto: Ingo Arend

Bei der 3. Kunst-Biennale in der kurdischen Stadt Mardin drehte sich alles um „Mythologien“

Eine Frau mit weißem Schleier beugt sich trauernd über ein lebloses Mädchen. Das Pietà-Motiv der Skulptur in dem leeren Steingewölbe erklärt sich für den Betrachter sofort. Irritierend nur, dass der Körper der schönen, jungen Toten in einen Fischschweif mündet. „Pity Pity“, die Arbeit der Mardiner Künstlerin Aysel Alver auf der 3. Mardin-Biennale war eines der vielen Belege dafür, wie produktiv Kunst eine einzigartige Projektionskulisse aufschließen kann.

„Mythologies“ hatte die kleine, erst 2010 gegründete, Biennale im äußersten Südosten der Türkei als Motto ausgegeben. Das klang etwas konventionell. Doch wer von den Dächern der labyrinthisch verwinkelten, 6000 Jahre alten Stadt, die sich malerisch an einen alten Berghügel schmiegt, hinab in die mesopotamische Tiefebene schaut, dem erscheint das nur noch logisch. Vor dem geistigen Auge dämmern da automatisch alle Mythen auf, die sich mit dieser Geburtsstätte der menschlichen Zivilisation verbindet.

Ein Mythos ist die Legende von Şahmaran. Das Fleisch der Königin, die halb Schlange und halb Mensch ist und in die sich ein junger Mann verliebt, wird von einem finsteren König begehrt. Die Geschichte endet natürlich tragisch. In Alvers Skulptur wird die Fabel einer absoluten Liebe und ihres Kampfes um Gerechtigkeit zugleich Sinnbild des Leidens der Frauen in einer seit Jahrzehnten von Krieg und Bürgerkrieg verheerten Gegend.

Die Biennale in der 80.000-Einwohner-Stadt ist nicht nur ein Beispiel für eine markante Gegenbewegung zum großen Biennale-Zirkus. So wie sie beharrlich den regionalen Kontext fokussiert, statt mit globalen Schlagworten um sich zu werfen. Angesagte Kunstdompteure sind hier verpönt: Trotzdem konnte das 15-köpfige Kuratoren-Kollektiv um die Ankaraer Galeristin Döne Otyam zur dritten Ausgabe ihrer, erst 2010 gegründeten, Schau immerhin 63 Künstlerinnen präsentieren.

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Eröffnungsperformance der 3. Mardin-Biennale. In der Mitte: Dilara Akays Installation „ARK170“. Foto: Ingo Arend

Mit diesem Ansatz ist Mardin auch das poetische Gegenstück zur Canakkale-Biennale am anderen, fast 2000 Kilometer entfernten, westlichen Ende der Türkei. Die hatte vergangenen September das Weltkrieg-Erinnerungsjahr 1915 thematisiert. In Mardin werden die großen Menschheitsfragen gern verschlüsselt. Zusammen mit der noch kleineren Sinop-Biennale am Schwarzen Meer kommt das Kunst-Schwellenland Türkei auf erstaunliche vier Kunstbiennalen – zivilgesellschaftliche Mini-Bollwerke gegen das Ein-Mann-Regime, das die AKP-Regierung dem Land nach den Parlamentswahlen Anfang Juni gern verordnen will.

Der Hang zur Poesie hieß aber nicht, dass Politik in der Kunstenklave im explosiven Dreiländereck Syrien, Türkei und Irak nicht vorgekommen wäre. Mit einem gehörigen Schrecken betrat zumindest der deutsche Besucher den zentralen Ausstellungsort, eine verfallene Kaserne namens „Alman Karargâhı“. Das „Deutsche Hauptquartier“ hatte dem deutschen Militär im 1. Weltkrieg als Stützpunkt gedient. Kurz zuvor war die Villa eines armenischen Kaufmanns zwangsenteignet worden.

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Alman Karargâhı: das ehemalige „deutsche Hauptquartier“ in Mardin, zentraler Ausstellungsort der Biennale. Foto: Ingo Arend

Mit „Arrows without Bodies“ evozierte der spanisch-britische Künstler Juan del Gado das Schicksal der Boat-People im Mittelmeer. Den Boden eines der verfallenen Gelasse des jahrhundertealten Mor Efrem-Klosters hatte er mit Sand bedeckt und überall Schuhe ausgelegt. An der Wand lief der Video-Loop eines endlos wogenden Meeres.

Und den Superhelden mit Pharao-Physiognomie und Gamal-Abdel-Nasser-Stimme, der in dem satirischen Video „On Presidents and Superheroes“ des ägyptischen Künstlers Khaled Hafez durch Ägypten paradiert, konnte man mühelos auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan beziehen.

Die Lust an Poesie und Ästhetik macht Mardin zu einer sehenswerten Alternative zu den Biennalen, die mittlerweile im Mainstream einer vorhersehbaren Politkunst ersticken. Die Biennale-Idee vom spielerisch entfesselten „Karneval“ als „Mittel des Widerstandes“ rutschte freilich mitunter ins Folkloristische ab. Etwa wenn die genderkritische gedachte Performance der Istanbuler Künstlerin Dilara Akay zu einem Volksfest mit kurdischen Tänzen ausartete.

Bei ihren Vorort-Recherchen war sie darauf gestoßen, dass es der Esel war, der den antiken König Priapos einst davon abhielt, die Göttin Hestia zu vergewaltigen. Bis heute geht ohne die geduldigen Lasttiere gar nichts in der Stadt mit ihren steilen Berggässchen. Ihre morgendlichen Schreie bildeten den Kern einer Performance, die Akay mit den Teilnehmerinnen einer Mardiner Frauen-Akademie einstudiert hatte.

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Screening von Romain Kronenbergs Video: „so long after sunset and so far from dawn“ (2014) während der 3. Mardin-Biennale. Foto: mardin-biennale

Gebrochen wurde derlei ästhetisches Appeasement mit der Volkskultur spätestens dann, als die Gäste in dem riesigen Open-Air-Kino am Rande der Stadt saßen. Das Amphitheater residiert vor der grandiosen Kulisse Mesopotamiens, die syrische Grenze ist keine zwanzig Kilometer entfernt.

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Teilnehmer der 3. Mardin-Biennale vor dem Open-Air Kino an der syrischen Grenze. Foto: Ingo Arend

Wer dort bei Sonnenuntergang Romain Kronenbergs Video „So long after sunset and so far from dawn“ betrachtete, in dem der französische Filmemacher Aufnahmen zerstörter Häuser an der armenischen und an der syrischen Grenze gegenüberstellt, konnte sich plötzlich vorstellen, wie sich die türkischen Armenier gefühlt haben mögen, als sie vor hundert Jahren von Mardin in die mesopotamische Wüste deportiert wurden. Von ferne konnte man die Lichter des zerstörten Kobane flackern sehen.

Ingo Arend

Mythologies – 3. Mardin-Biennale
Mardin, Türkei,
Noch bis zum 30.6.2015