Mist. Nichts als Sonne. Nicht die kleinste Wolke. Und jetzt kommt da auch noch so ein Lukas…

…Dieser Lukas kennt Lara und lümmelt sich entspannt neben uns auf diese Wiese. Lukas trägt eine Zahnspange und kann ein Segelflugzeug fliegen, allein. Und ich fühle mich jetzt ziemlich allein.

Andere bekommen, wenn sie Geburtstag haben, 1 Krawatte oder 2 Socken oder 3 Wünsche frei. Und ich? Einen Fallschirmsprung. Die beiden letzten Wochenenden lief es gut, Scheißwetter, aber nun ist da oben nichts als brutales Blau. Sicher, ich habe das schon mal gemacht, aber da war ich 17, 18. Auch hier, in Bad Berka, es war die gleiche Wiese. Es ist wohl auch der gleiche Himmel, aber ich erinnere mich nicht. Ich weiß nur, dass ich heute keine Chance habe, es nicht zu tun. Also konzentriere ich mich auf die souveräne Lässigkeit, die beiden Damen sollen nicht schlecht von mir denken. Schließlich, ich bin heute der Held, und das verpflichtet.

Und das dauert. Es ist Flugtag und ich bin erst in der Maschine Nr. 8.

Irgendwann winkt Haase, Achim Haase, der Tandemmaster. Irgendwie wirkt er unangemessen entspannt. Mag sein, nach dem 2000. Sprung wäre ich das auch. Ich muss ein Formblatt unterschreiben. Das „Extrem-Risiko“, lese ich, bestünde darin „dass der Hauptfallschirm sich nicht öffnet und der Reservefallschirm ebenfalls versagt“. Sie verzichten darauf, den dann folgenden Vorgang zu erläutern, sie bauen auf die Fantasie des Kunden. Aber auf dem Klemmbrett, das Haase mir gibt, liegen mehrere solche unterschriebener Blätter. Es hat sie wohl noch kein Hinterbliebener angefordert.

Da fragt die Dame, damit sie nachher den Helden der Lüfte am Himmel identifizieren kann, ob der Chef immer wieder diesen blau-weiß-roten Schirm benutzt. „Ja“, sagt Haase, „wenn er aufgeht“. „Ja“, ergänzt einer der umstehenden Kameraden aus der 2000-Sprünge-Kategorie, „sonst macht ihr den Möllemann“. Ich grinse tapfer.

Aber das ist jetzt kein Scherz. Das ist die Cessna, Maschine Nr. 8. „Noch ein Angstkippchen?“ fragt Haase und dann ist auch diese Frist vorbei. Wir sitzen auf dem Boden, so werden sie vielleicht in Tadschikistan zum Markt fahren. Aber wir fahren in den Himmel, 4000 Meter. Das dauert ungefähr 20 Minuten, und das ist ziemlich lang, wenn einer weiß, er wird dieses Flugzeug verlassen, ehe es landet. Wir steigen.

Ich sitze zwischen Haases Beinen. Irgendwann spüre ich ihn am Rücken und höre ihn auch: „Links unten eingehakt, links oben eingehakt. Rechts unten eingehakt, rechts oben eingehakt“. Der Mann mit der Kamera am Helm lächelt mich an, es soll ja eine schöne Erinnerung werden. Ich lächle angestrengt zurück. Ich soll die Brille aufsetzen, sagt Haase.

Dann öffnen sie die Tür.

Irgendwann bin ich an einem Gummiseil von einem Kran gesprungen, das war der Ausnahmezustand. Das hier ist ziemlich aufregend, aber nicht so grauenvoll: Aus 60 Metern Höhe ist die Erde eine tödliche Drohung, bei 4000 Metern ist sie eine Schönheit im blauen Tuch.

Jetzt. Wir rutschen auf dem Hintern zur Tür. Ich sitze vorn, Füße in der Luft, Kopf im Nacken, Arme vor der Brust. Gleich, gleich werden wir fallen. Warten. Der Sturz. Und dann kommt das Glück. Der Lohn der Angst.

Der Mensch ist nicht zum Fliegen gemacht. Doch für diese Minute des freien Falls bist du auch frei von allem, was Menschen fühlen seit Menschen denken. Eine Minute wie ein Stein, der glaubt, er sei ein Vogel. Eine Minute Glück und Freiheit. Das ist es wert.

Als wir schon die Menschen auf dem Flugplatz erkennen können, fragt Haase, ob er den offenen Schirm noch mal drehen soll. Ja! rufe ich. Denn das sieht jetzt von unten bestimmt sehr gefährlich aus. Und grinse. Aber das sehen sie ja nicht, die da unten.


Autor: Henryk Goldberg

Text erschienen in Thüringer Allgemeine, 12.06.10