Badehosen & Beton

Nein, ich war nicht dabei als es eröffnet wurde. Das war 1925 und nicht einmal mein verehrtes Fräulein Mutter konnte schon laufen. Aber mit den Großeltern der jungen Menschen, die jetzt hier toben & tollen, war ich auf der gleichen Rutsche, damals.

Die Rutsche war das Größte im Erfurter Nordbad. Das heißt, das Größte war genau genommen der Zehner, aber der war nicht wirklich schön, der war nur gut für die Mutprobe. Die war vor allem dann toll, wenn die anderen sich nicht trauten, das gab Punkte. Aber das wirklich Tolle war die Rutsche, es war die Zeit vor der Erfindung des Spaßbades. Pure Freude. Und leider auch purer Beton. Das war das Problem. Denn die Reibung zwischen der Badehose und dem Beton war für einen von beiden nachteilig und das war nicht der Beton. Was wiederum nachteilig für mich war, denn irgendwann kam mein verehrtes Fräulein Mutter darauf, es müssten die Löcher in der Badehose Gründe haben, die mit meinen Freizeitaktivitäten zusammenhingen. Nach eingehender Befragung lautete die Anweisung: Rutschen fällt aus. Und das war wirklich Mist. Traurig im Bad oder ängstlich nach Hause.

Obgleich diese Geschichte hier erstmals und weltweit exklusiv erzählt wird, müssen sie es gewusst haben. Denn das neue Nordbad hat eine klasse Rutsche. Die hat mehr Kurven und gar keinen Beton, deshalb stehen die Rutsch-Willigen Schlange und müssen keinen Ärger befürchten. Womöglich ist die Badehosenverträglichkeit Teil der DIN EN 1069, denn mit dieser Norm wurde die blaue Bahn gebaut, wie ein Schild verrät. Und meine Rührung über die schöne neue Rutsche wird durch den Umstand belegt, dass ich vermutlich der einzige Badegast bin, der dieses Schild andachtsvoll gelesen hat. Und überdies die Abbildungen der drei „erlaubten Rutschhaltungen“ studiert. Allerdings, gerutscht bin ich nicht. Es war mir irgendwie peinlich, mich in die Wartegemeinschaft zu stellen. Die wissen ja nicht, dass es eine Frage des Traditionsbewusstseins ist.

Aber sonst ist es mit dem Traditionsbewusstsein in diesem neuen Bad ein merkwürdiges Ding. Es ist nichts wie früher und es ist alles gut. Es ist die Lage im Park und es ist der Grundriss des Geländes, aber sonst nichts. Die blaue „Schwalbe“ (ein Kleinkraftrad aus der Produktion des Thüringer Herstellers VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk Simson Suhl, erlaubt sich @getidan hier erklärend einzufügen) vor dem Eingang gehörte wohl einem Nostalgiker, der es noch einmal fühlen wollte. Von den Kassenautomaten hätten wir damals geglaubt, sie seien ein Nebenprodukt der sowjetischen Weltraumforschung. Vor dem Verkaufsstand hätten wir geglaubt, es handele sich um eine Niederlassung des Intershop. Westgeld gab es damals nicht fürs Bad, selbst das Ostgeld war knapp bemessen. Ein Fettbrot, eine Brause, mit 50 Pfennig warst du dabei. Aber diese halbe Mark gab es nicht immer, geschmierte Brote und eine Flasche voll Pfefferminztee taten es auch. Dieses Fettbrot-Feeling ist eine schöne Erinnerung, aber ich vermisse es nicht. Ich vermisse nicht die Arm-aber-zufrieden-Atmosphäre, die in diesem Bad im Erfurter Norden bestimmend war. Wir haben das damals wohl nicht so empfunden wie im Rückblick. Es war halt so und so wie es war, so war es eben.

Bin ich nun ein Nostalgiker, weil ich mich gern an die Kindheit in diesem Bad erinnere? Weil ich auch, wie die Bürger, die gegen die Schließung erfolgreich protestierten, glaube, dass ein solcher Ort Teil des Gedächtnisses einer Stadt ist. Sie haben alles neu gemacht und alles besser, es ist wirklich gelungen. Es gibt manches von damals, woran ich gerne denke, weil es Teil meiner frühen Eindrücke ist und nichts, was ich vermisse.

Manche sollten es für möglich halten, dass es manchen Menschen mit der DDR ähnlich geht. Man ist kein Betonkopf, weil man sich gern erinnert an eine Rutsche aus Beton. Oder anderes.

Autor: Henryk Goldberg, in TA 10.07.2010