Die Schönheit an sich

Oskar Matzerath stellt, da ist er drei, das Wachsen ein, weil er nicht werden will wie alle Welt. Greta Garbo stellt, das ist sie 36, das Filmen ein und vielleicht tut sie es, weil sie werden will wie alle Welt.

Vielleicht, dass die Göttliche aus dem Himmel floh, weil sie auf der Erde leben wollte. Vielleicht, dass es oben zu einsam war. Marlene Dietrich verbringt die letzten 14 Jahre ihres Lebens in einer Wohnung in Paris, da hat sie ihr Leben gelebt. Aber nie wird jemand mit letzter Sicherheit erfahren (und die, die es behaupten lügen) wie es kam, dass der vielleicht größte Star, den das Kino je hervorbrachte, mit 36 Jahren, 1941, beschloss, fortan, nicht mehr göttlich sein zu wollen und sich dadurch endgültig Wohnrecht in jenen mythischen Bezirken erwarb, die rationaler Deutung nicht mehr zugänglich sind. Es sieht so aus, als sei das mehr oder weniger passiert, als sei es die Summe verschiedener Gründe. 1941 erscheint, was damals niemand weiß, ihr letzter Film, Die Frau mit den zwei Gesichtern. Es gibt Ärger mit einer katholischen Liga, der Film fällt durch bei der Kritik, wenige Tage nach der Premiere brennt Pearl Harbour und Amerika ist im Krieg. Ihr Vertrag (sie war eine harte Verhandlungsführerin, was der legendäre MGM-Boss Louis B. Meyer bemerkte, als sie sieben Monate streikte) verpflichtet sie nur alle zwei Jahre zu einem Film. 1943 kam man überein, nach dem Krieg weiter zu sehen, Meyer hatte wohl auch das Gefühl, die großen Zeiten seines Spitzenproduktes seien vorüber. Es gibt später Projekte, Probeaufnahmen, aber keine Filme mehr. Und es sieht so aus, als kämpfe da die Schauspielerin mit dem natürlichen Drang zu spielen gegen die Frau, mit dem natürlichen Drang zu leben. Jene Frau, schrieb sie über den Mythos Garbo, die ich nicht bin, ist meine unerbitterlichste Rivalin. Frei werde ich erst werden als Greisin, die nichts mehr vom Leben erwartet als ein wenig Sonne im Garten. Aber es wird zu spät sein, denn dann wird niemand mehr den Kerker meiner Einsamkeit sprengen.

Vielleicht, dass sie den Traum träumte, sie könne, ohne die Leinwand, von der Göttlichen wieder zur Sterblichen werden. Sie lebte noch beinahe fünfzig Jahre ohne einen weiteren Film und starb am 15. April 1990, 84 Jahre alt. Eine Frau wie alle wurde sie nie mehr, es war zu spät. Sie war ein Star für alle Zeit. Ein Star, ein wirklicher Star, ist etwas anderes als ein sehr bekannter Künstler. Ein Star ist ein Ereignis aus eigenem Recht und dieses Recht muss sich nicht zwingend aus einer überragenden künstlerischen Leistung herleiten lassen. Stärker, schreibt Franz Blei in seinem Essay Die göttliche Garbo, wird immer ihre Natur zu uns sprechen, als ihre Kunst, deutlicher und unmittelbarer ihr Gesicht, als ihre Maske. Ein solcher Star hat ein Geheimnis, das ist wie ein Nebel: es zerfließt, wenn man sich ihm nähert. Und die wirklichen Stars, die auf den Gipfeln siedeln, dort, wo es einsam ist, haben eine Aura, die ihrer Zeit schenkt, wonach diese sich sehnt. Greta Garbo schenkt ihrer Zeit Schönheit. Es ist, als sie beginnt, die Zeit nach dem ersten Weltkrieg, wenn sie aufhört, wird der nächste Krieg beginnen, alles bisher bekannte vergessen zu machen.

Wenn Joseph von Sternberg sich nicht gegen Heinrich Mann und Emil Jannings durchgesetzt hätte, dann würde heute wohl niemand Marlene Dietrich kennen. Wenn Greta Louisa Gustafson 1921, drei Tage nachdem sie als Verkäuferin in einem Kaufhaus begonnen hatte, nicht in die Hutabteilung versetzt worden wäre, dann hätte es vielleicht Greta Garbo nie gegeben, denn dann hätte dieser Werbefilmer sie nie gesehen. Und nicht Mauritz Stiller, der sich in die Schöne verliebte und ihr 1924 in Gösta Berling eine Hauptrolle gab. Es folgte Berlin, Die freudlose Gasse, und dann Hollywood. Sechzehn Jahre und 24 Filme für die Ewigkeit, Mata Hari, Anna Karenina und Ninotschka sind wohl die bekanntesten. Niemand wurde so wie sie zum Symbol der reinen, abstrakten Schönheit, keine andere der Diven war so sehr Gesicht und so wenig Leib. Heute ist wohl ihr Bild präsent, während die Filme verblassen. Bald wird auch dieses Bild verschwimmen und nichts bleiben als der Name. Das ist dann wahrhaft göttlich.


Text: Henryk Goldberg

Bild: Greta Garbo in „Die freudlose Gasse“, 1925. Alexander Binder made the portrait during the filming.

 

 

aus: Kulturzeit vom 01.04.2010:

 

Mata Hari, USA 1931