© Hans Georg Pfannmüller, 1954

© Hans Georg Pfannmüller, 1954

Engel leben einsam

Als Marlene Dietrich am 3. Mai 1960 im Berliner Titania-Palast eine Galavorstellung gibt, da drängen sich die Deutschen hinter der Absperrung. Sie rufen und sie zeigen Plakate: Marlene go home. In der Atmosphäre der Adenauer-Ära galt die Frau, die während des Krieges vor amerikanischen GI’s gesungen hatte, die gegen Deutschland kämpften, vielen noch als Verräterin am Vaterland. Dabei ist diese Frau der vielleicht einzige wirkliche Weltstar, den dieses Land hervorgebracht hat.

Ein Star, ein wirklicher Star, ist etwas anderes als ein sehr bekannter Künstler. Ein Star ist ein Ereignis aus eigenem Recht, und dieses Recht muss sich nicht zwingend aus einer überragenden künstlerischen Fähigkeit herleiten. Ein solcher Star hat ein Geheimnis, das ist wie ein Nebel: Es zerfließt, wenn man sich ihm nähert. Und die wirklichen Stars, die auf den Gipfeln siedeln, dort, wo es einsam ist, haben in der Regel eine Aura, die ihrer Zeit schenkt, wonach diese sich sehnt. Es braucht nur jemandem, der diese Sehnsucht zu erfüllen im Stande ist und diese Fähigkeit zu erkennen vermag.

Als Joseph von Sternberg beginnt, den Blauen Engel vorzubereiten, da heißt seine Aufgabe eigentlich Emil Jannings. Er soll den ersten Tonfilm dieses deutschen Stars, der ein herausragender Schauspieler ist, zum Erfolg führen, einen Jannings-Film, der Rest ist Kleinkram. Nach den Probeaufnahmen entscheidet sich der Regisseur für Marlene Dietrich. Das ist eine Schauspielerin mit mittleren Erfolgen. Siebzehn Stummfilme, einige Jahre Theater, die kleineren Rollen meist. Über ihre Hyppolita im Sommernachtstraum schrieb Alfred Kerr, man könne die umstehenden Herren schon einmal vergessen um ihres Fleisches willen. Es gibt dutzende Schauspielerinnen dieses Bekanntheits- und Begabungsgrades. Die Ufa wollte sie nicht, Heinrich Mann wollte sie nicht, der wollte seine Geliebte Trude Hesterberg, und Emil Jannings wollte sie eigentlich auch nicht. Nur Joseph von Sternberg wollte sie und er setzte sich durch. Es war nicht zwingend, dass er sich durchsetzte, es war nicht zwingend, dass man ihn gewähren ließ. Es war also nicht zwingend, dass aus Maria Magdalena Dietrichs ein Weltstar wurde. Es ist nie zwingend. Es bedarf glücklicher Umstände und der Hellsichtigkeit eines Visionärs. Es wird niemals bekannt werden, wie viele Weltstars ungeboren blieben, weil da keiner war, sie in ihrem Embryonalzustand zu erkennen.

Am 1. April 1930 hat „Der blaue Engel“ Premiere und niemand spricht von Emil Jannings. Marlene Dietrich erfährt auf dem Schiff nach Amerika, dass sie noch in der Nacht besteigt, dass sie nun ein Star ist in Deutschland. Einige Monate später hat ihr erster Film bei der Paramount, die mit ihr die deutsche Antwort auf den schwedischen Star Greta Garbo der MGM sucht, Premiere. Und dann ist sie ein Star in Amerika und also in der Welt. Es ist der Weltruhm eines Geschöpfes, das Joseph von Sternberg schuf, einer Kunstfigur, die Marlene Dietrich heißt. Die Schnittmenge zwischen dieser Figur und der Frau, die sie darstellte, wird niemand ermitteln können. Marlene Dietrich hat später alles getan, ihre Persönlichkeit zu vernebeln. Und ob die Äußerung, sie habe Erotik nur dargestellt, nicht empfunden, die Disziplin einer preußischen Offizierstochter beschreibt, die ihre Aufgabe erfüllt, oder doch nur den sarkastischen Umgang mit der eigenen Legende, wer weiß das schon. Die Zahl ihrer Männer und Frauen beweist im Zweifelsfalle nicht viel, außer ihrer Einsamkeit. Es ist aber am Ende gleichgültig, ob sie es war, denn sie konnte es darstellen. Die deutsche Lola war, für die Maßgaben des damaligen Zeitgeistes, deftig, ordinär und obszön. Das Bild, Marlene mit Schenkeln und Strapsen auf der Tonne, ist eine Ikone der Filmgeschichte und steht für den geprägten Begriff der Dietrich aber das ist es nicht. Diese Figur, wer den Film heute sieht, mutet uns eher heiter an als lasziv. Joseph von Sternberg wiederum war es, der sein Geschöpf ablöste von diesem Bild eines deftigen Mädchens vom Fleischmarkt mit den kräftigen Schenkeln und ihr das Geheimnis schenkte. Das Geheimnis der kühlen, makellosen Schönheit mit den unergründlichen Augen. Die Aura einer Frau, mit der, wenn sie bei Laune ist, alles ginge und die von nichts berührt werden kann, von der der Champagner so ablaufen würde wie der Schmutz. Das ist das Geheimnis der Kunstfigur Marlene Dietrich, und ob die Männer und Frauen, die ihr verfielen, diesem Bild erlagen oder dem Menschen, der es trug, und wie viel beide miteinander zu tun hatten das ist das Geheimnis der Frau hinter dem Bild. Engel leben sehr weit oben und sehr einsam. Das stiftet Sehnsucht. Ihr erster Film in den USA war „Marokko“, mit Gary Cooper als Partner, und damit war die Figur kreiert. Eine makellose kühle Schönheit, die nach Regeln lebt, die sie bestimmt. Es ist die Aura einer solchen zugleich faszinierenden und ängstigenden emanzipatorischen Haltung, die ihren Erfolg machte. Ihr erster Satz in diesem Film lautet: „I don’t need any Help“. Ich brauche keine Hilfe. Wirklich?

Irgendwann war ihre Strähne zu Ende, dann folgte 1939 ein glanzvolles Comeback einer anderen Figur mit James Stewart und Sein größter Bluff.  Sie ging nicht, obschon es Avancen gab, nach Deutschland zurück, sie sang für die GI’s. Das begründete nach dem Krieg ihre zweite Karriere, in einem nicht mehr jugendlichen Alter sang sie in sehr weit geschlitzten Kleidern auf den Bühnen dieser Welt. Und als wollte sie es dieser Welt noch einmal zeigen drehte sie 1958 mit Billy Wilder ihren vielleicht besten Film, Zeugin der Anklage. Ihr letztes Lied in einem Film sang sie 1978 und komponiert hatte es der DDR-Komponist Günther Fischer.

Im Jahr darauf begann sie mit der Inszenierung des letzten Stadiums ihres eigenen Mysteriums, sie schloss die Tür ihrer Pariser Wohnung hinter sich, um sie nie mehr zu verlassen.

Bald auf den Tag genau 42 Jahre, nachdem sie in Berlin ausgepfiffen wurde, stehen die Leute wieder für sie auf der Straße. Als Marlene Dietrich am 16. Mai 1992 beerdigt wird, geschieht es auf ihren Wunsch in Berlin. Sie hat sich wohl von ihrer Heimat so wenig getrennt wie von ihrem Mann. Unter der Maske muss viel Sehnsucht gewesen sein. Und die Menschen streuen Blumen auf den Sarg, als wollten sie die Frage des berühmten Liedes beantworten. Marlene goes home.

Text: Henryk Goldberg