Wir waren so frei – ein Film, den es nicht gibt

In der Internet-Enzyklopädie Wikipedia werden die Dinge auf den Punkt gebracht.

Dort liest man unter dem Stichwort Jürgen Gosch: „Geb. am 9. Sept. 1943 in Cottbus, ein deutscher Theaterregisseur, der zu den wichtigsten Vertretern des zeitgenössischen deutschen Theaters zählt.“ Sein beruflicher Werdegang vom achtbaren Bühnen- und Filmschauspieler zum Ausnahmeregisseur der Ostberliner Volksbühne wird nur kurz gestreift und endet mit einer Fehlanzeige. ‚Leonce und Lena’, Goschs verzweifelt-komische Inszenierung von Büchners Komödie, war zwar nicht geliebt von den DDR-Kulturverwaltern, wurde aber nicht abgesetzt und lief zwei Spielzeiten vor vollem Haus.

Erst als er an der Volksbühne nicht mehr arbeiten durfte, aber im Westen gastieren, gab er 1983 seinen Wohnsitz am Prenzlauer Berg auf und ging nach Köln, später nach Hamburg, Bochum, Düsseldorf, wo er sich als intensiver Schauspielerregisseur einen Namen machte. 1989 scheiterte er als Intendant der Berliner Schaubühne und bewies sich danach als zuverlässige Größe am Deutschen Theater in der Hauptstadt. Letzte Woche wählten 37 Kritiker in der jährlichen Umfrage von Theater heute Goschs Onkel Wanja zur Inszenierung des Jahres.

Zum dritten Mal seit 2004 wird Gosch damit zum besten deutschen Regisseur gekürt. Und das, obwohl Max Reinhardts titanischer Zauberstab oder Brechts dialektischer Rechenschieber den medienscheuen Eigenbrödler nie berührt haben, er jede billige Aktualisierung und schnöde Psychologisierung klassischer Texte verweigert. Wer mit ihm arbeitet, ist für das autoritäre deutsche Welterklärungstheater verloren. „Der Gosch ist in der Arbeit so sehr im Thema und so wenig Aufsichtsperson oder Regiebesitzer. Das fällt ihm doch gar nicht ein“, sagt Jürgen Holtz, einer von Goschs treuesten Schauspielern.

Mit ihm, Hermann Beyer, Michael Gwisdek und Heidemarie Schneider drehte Gosch 1981 unter abenteuerlichen Umständen seinen einzigen Spielfilm. Das Experiment, eigentlich eine Meisterschülerarbeit des Kamerastudenten der Babelsberger Filmhochschule Lars Barthel scheiterte noch vor ihrer Fertigstellung. Nach der Rohschnittabnahme wurde der Film verboten, später das gesamte Material vernichtet. In einer Nacht- und Nebelaktion versuchte Barthel wenigstens das Negativ des Films beiseite zu schaffen, wurde aber denunziert und wegen Diebstahls von Volkseigentum angeklagt. Durch Zufall tauchte nach der Wende das Rohschnitt-Positiv im Archiv der HFF wieder auf. Doch Gosch hatte die DDR weit hinter sich gelassen, Barthel drehte Dokumentarfilme und die Darsteller des Experiments spielten Theater, Fernsehen oder führten wie Gwisdek selbst Regie. Nachdem die DEFA-Stiftung einen Film über den vergessenen Film produzierte, entschied sich Jürgen Gosch, sein frühes Werk doch noch zu vollenden. Der ohne Drehbuch, Geld und professionelle Technik entstandene Film ist sehenswert und mehr als eine Fußnote der DDR-Kultur. Hinter einer banalen Story – eine Frau zwischen zwei Männern – tritt der Zustand der späten Honecker-Ära als pure Langweile und Lust am Quatschmachen zutage. Quatsch als letzte Form der Kommunikation einer von oben nach unten massiv gestörten Gesellschaft. Deshalb wurde der Film im Stil der frühen Werke von Forman und Cassavetes auch von den Realitätsverwaltern richtig verstanden und vernichtet. Fast alle am Experiment Beteiligten sehen in der Arbeit von 1981 ihre wichtigste Erfahrung, eine Einübung in kollektiven Eigensinn und künstlerische Freiheit beim Filmemachen, die heute oft vermisst wird.

Text: Thomas Knauf