Berliner Nächte, das Gras der Kanzlerin und ermüdende High Hehls 

Macht macht sinnlich. Macht überträgt sich – auf ihre zu Stein gewordenen Zeugnisse, auf Inneneinrichtungen wie Dekor, selbst Gärten dokumentieren auf ihre Weise die Vergangenheit oder Gegenwärtigkeit von Macht. Alte Macht, wie sie in Form der weitgehend originalgetreu wiedererstehenden Staatsbibliothek im Herzen von Berlin zu erleben ist, sollte das deutsche Volk einschüchtern. Sie sollte das Gefühl von imperialer Herrschaft, von Kälte, bei gleichzeitigem Respekt für das hinter den Mauern akkumulierte Wissen aus dem preußischen Kaiserreich entstehen lassen. Neue Macht zeigt sich futuristisch, gibt sich gläsern transparent und kleidet seine Baukonstruktionen vorzugsweise in unschuldiges Weiß. So etwa wie es der Stil des Berliner Kanzleramts suggeriert, im Volksmund auch „Die Waschmaschine“ genannt.

Macht hat aber auch andere fetischisierende Qualitäten, die sich über die wechselnden Zeiten von Monarchie zu Republik hinweg erhalten haben. Eigenschaften, die ungleich älter und gleichzeitig viel subtiler sind. Macht hat verführerische, erotische Wirkung. Schon die Nähe zur Macht vermittelt den sonst Ohnmächtigen das trügerische Gefühl von Partizipation. Sie lässt romantische, bisweilen auch anarchische Phantasien von eigener Machtergreifung aufsteigen.

Wie neulich am 17. Juli, als Angela Merkel in ihrem Domizil den 63. Geburtstag feierte. Da hatte ihre Kulturstaatsministerin Monika Grütters die formidable Idee, die Ergebnisse der von ihr angeregten Runden Tische mit Deutschlands Kulturfrauen zu präsentieren. Angela Merkel erschien zu einem öffentlichkeitswirksam aufbereiteten Fototermin, schüttelte ein paar Hände und die zur Abwechslung gar nicht mal so sehr unter den Gesichtspunkten von Repräsentation und Likeability eingeladenen Kulturfrauen sagten ihre Ergänzungen zum Gleichstellungs-Slogan „Weil es 2017 ist …“ auf und sangen artig einen Geburtstagskanon zu Ehren der Jubilarin. Wie als Quotenausgleich bei so viel Frauen-Übermacht waren auch einige prominente und repräsentative männliche Vertreter der Kultur eingeladen. Etwa Oscar-Preisträger Volker Schlöndorff, der mit dem eigentlichen Anlass der Zusammenkunft nichts zu tun hatte, der aber auch einen Hauch von internationalem Filmruhm vermitteln sollte.

Später am Abend – da hatte sich Geburtstagskind Merkel schon längst empfohlen – standen die zum Anlass entsprechend elegant gekleideten Frauen im Garten des Kanzleramts zusammen. Sie verdauten die extrem mageren Ergebnisse des Gipfeltreffens, rätselten über die versprochene Ombudsfrau im neuen „KulturFrauenzimmer“ und suchten zu verdrängen, dass sie als Claque für die demnächst wahlkämpfende Kanzlerin missbraucht worden waren. In die aufkommende Frustration ließ sich eine der Organisatorinnen des Treffens mit einem Ruf vernehmen: „Mädels, jetzt ziehen wir alle unsere Highheels aus und laufen mit nackten Füßen über den Rasen.“ Die so animierten Frauen ließen sich zu dieser Aktion überreden, zogen die hohen Hacken von ihren vom langen Stehen schmerzenden Füßen und rannten in die einbrechende Berliner Nacht.

Ein Akt der milden Grenzüberschreitung, der symbolischen Machtergreifung, nur für ein paar Minuten und an der Peripherie der Macht. Die 68er, besonders aber ihre unerzogenen Kinder, hätten ihren zornigen Protest wohl an anderer Stellen mit spektakuläreren Folgen ausgedrückt. Sofern sie denn eine Einladung bekommen hätten und ihr gefolgt wären. Oder sie hätten als Angehörige einer amerikanischen Jeunesse Dorée gleich das ganze Haus des ultrareichen Gastgebers demoliert. Nicht aus Berechnung und politischer Wut, sondern aus Übermut wie die Jugendlichen in Blake Edwards buchstäblich überschäumender Filmkomödie „Der Partyschreck“ von 1968.

Das von Frauenfüßen niedergetrampelte Gras wird sich nach ein paar Minuten wiederaufgerichtet haben. Als sei ihm nichts geschehen. In ihrer Harmlosigkeit legt die Aktion aber auch ein wenig Zeugnis davon ab, wie unendlich schwer es auch heute ist, als Frau gleichzeitig Konventionen und Selbstanforderungen gerecht zu werden. Frauen wollen sich selbst gefallen und den anderen gefallen. Sie wollen den Idealen und Vorstellungen von klassischer Weiblichkeit und Schönheit nicht untreu werden und gleichzeitig mit aller Entschiedenheit für egalitäre Partizipation von Frauen in einer männerbeherrschten Kulturwelt kämpfen. Das kann nicht 24 Stunden bei Tag wie in der Nacht gut gehen. Das Ideal-Ich muss mal Urlaub vom Ich-Ideal nehmen. Sonst bleibt das Ich am Ende noch auf der Strecke. Und ist schlimmer zugerichtet als der Rasen im Kanzleramt.

Amüsiert bis befremdet hat die Aktion übrigens jene Fraktion der Frauen verfolgt, die in Sneakers oder Turnschuhen zur Veranstaltung gekommen war, die aus Prinzip keine High Heels trägt und die sich von der Aufforderung nicht angesprochen fühlte. Diese Gruppe hat das berauschende Gefühl verpasst, mit nackten Sohlen über Merkels Gras zu laufen, ist aber auch in keine Girlyattitüden verfallen. Was wiederum zeigt: Die „Frau im Singular“ gibt es nicht. Emanzipation hat viele Gesichter. Die einen leben sie öffentlich und setzen sich der Gefahr aus, sich zu kompromittieren und müssen sich gleichzeitig hüten, zu kleinen Nummern im großen, alle verschlingenden Kulturbetrieb gemacht zu werden. Die anderen halten sich weitgehend raus, bleiben rein und laufen dabei Gefahr übersehen zu werden und ein Leben in der abgeschirmten Gruppe zu führen.

Michael André

Bild: screenshot (Ausschnitt) | Foto: Bundesregierung/Münch

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