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Wer kann, geht, so oft wie nur möglich, in Locarno in die Retrospektive mit Filmen von Regisseur Vincente Minnelli. Vom Publikum geradezu gestürmt, selbst morgens um neun Uhr, sind diese Filme allerdings fast immer auch ein Hochgenuss. Bonbons. Im Gedächtnis auch von Filmkennern vor allem als Regisseur von Musicals in Erinnerung (Ein Amerikaner in Paris, Gigi) sind es doch vor allem die Komödien und Melodramen, die heutzutage noch begeistern. Wo die aufwändigen Musicals sehr aufs Artifizielle setzen (gemalte Kulissen, ausgetüftelte Gesangs- und Tanznummern), begeistern die anderen Filme mit ihren psychologisch genauen Erkundungen der Untiefen des Seins. Freunde alter Filmkunst geraten ins Schwärmen.

Aber auch sonst: viel Lohnenswertes. Natürlich hat am Samstag insbesondere der Besuch des „Cowboys & Aliens“-Teams – dabei Harrison Ford und Daniel Craig – für einen enormen Spaßfaktor gesorgt. Glamour macht sich immer gut. Der Film selbst, der demnächst auch in den deutschen Kinos anläuft, ist nicht unbedingt erste Sahne, geht aber als originelle Unterhaltung (Gab es je zuvor einen Science-Fiction-Film im Western-Gewand?) gut durch.

Im Wettbewerb und den anderen Sektionen des Festivals fern der Piazza-Grande-Show dominiert denn doch Gewichtigeres. Unter dem Schlagwort „Gesellschaftkritik“ besonders spannend: „Hashoter“ (Polizisten) aus Israel. Regisseur Nadav Lapid zeigt eine Machogesellschaft, in der ein Menschenleben nichts wert ist. Wer nicht für die Regierung ist, hat kein recht auf Leben und wird im Zweifelsfall abgeknallt. So einfach und so brutal denken einige seiner Protagonisten. Natürlich wird deren primitive Weltsicht im Laufe der Handlung erschüttert – und der Film damit zu einer Mahnung, nicht Hass als oberstes Gebot des sozialen Miteinanders auszurufen. Viele in Locarno sehen in diesem Film einen ersten Kandidaten für einen der wichtigen Festival-Preise.

Mein persönlicher Lieblingsfilm bisher: „Terri“ aus den USA. Das ist einer dieser kleinen, feinen Filme, die sich mehr mit dem Herz als dem Verstand erschließen. Beim Nachdenken allerdings wird klar: hier wird durchaus gesellschaftliche Realität gespiegelt, wird, auf andere Weise als im israelischen Wettbewerbsbeitrag, genauso über bedeutende Fragen des alltäglichen Miteinanders nachgedacht. – Im Zentrum des Films steht ein Halbwüchsiger, namens Terri, der nicht nur stark übergewichtig ist, und schon dadurch auffällt, der dazu durch oft seltsames Benehmen fern aller Konventionen nicht in gängige Muster passt. Keiner fragt, wieso das so ist, nahezu alle stempeln ihn als „Monster“ ab und behandeln ihn auch so. Kein Wunder, dass der Junge in Gefahr gerät, auszuticken… Das Tolle an dem Film: Die Story mündet nicht in Extreme. Ein leiser Ton herrscht vor. So schleichend, wie die Gewalt etwa der Mitschüler gegen Terri arbeitet, so vorsichtig gräbt er sich aus dem Sumpf des Außenseiterdaseins. Eine schöne Studie darüber, wie es helfen kann, durch Selbstbewusstsein der guten Art, sich selbst tatsächlich zu helfen – und damit auch den anderen. Sehr fein. Wie gesagt: mein bisheriger Favorit. Aber noch stehen ja -x Festivalfilme aus. Jetzt schon zu spekulieren, ist, so viel Spaß es auch macht, doch recht unsinnig.

© Peter Claus

Jacob Wysocki and Olivia Crocicchia in Azazel Jacobs’s “Terri."

Jacob Wysocki and Olivia Crocicchia in Azazel Jacobs’s “Terri."