Das Filmfest zeigte die Vielfalt und Widersprüchlichkeit von über hundert Jahren „Black Cinema |

Als 1992 im Grazer Stadtpark eine große Retrospektive unter dem Titel „Black Cinema“ gezeigt wurde, fiel die Definition noch einigermaßen leicht. Es ging um schwarze Filmemacher und Filmemacherinnen, und damit basta. Eine ebenso berechtigte wie problematische Reduktion. Doch selbst eine solche Hommage erweist sich wiederum als Ghetto und Falle: Ist eine fundamentale Bestimmung von „schwarz“ nicht ihrerseits zugleich anti-rassistisch und auch wiederum rassistisch? Ab wann ist jemand oder etwas schwarz, und wer bestimmt das? Zumal es für alle schwarze Kunst einen politisch-ökonomischen Haken gibt: Die schwarzen Märkte, egal ob in Afrika, den USA, Jamaika oder Europa, können nicht genug Kaufkraft und Organisation generieren, um eine Produktion auf Augenhöhe mit der internationalen Konkurrenz zu gewährleisten. Kunst, Musik und Film „von Schwarzen für Schwarze“ bliebe auf diese Weise immer hinter den kreativen Möglichkeiten der Künstler zurück. Daher benötigt die schwarze Kunst bei der Produktion Allianzen mit liberalen Weißen und vor allem auch ein weißes Publikum. Verrat und Entfremdung lauern am einen Ende, Isolation und Verarmung am anderen. Schwarze Kunst und schwarzes Kino ist immer ein Geschehen an Grenzen.

Sehr allgemein sagt es der Kurator der Reihe in Locarno, Greg de Cuir Jr.: „Wir können nicht mehr von einem Black Cinema sprechen, genauso wenig wie von einem Afrika.“ Aber mit einem Bekenntnis zur Vielfalt ist es noch nicht getan. Genauer wird da Arthur Jafa, einer der bedeutendsten schwarzen Künstler und Filmemacher derzeit: „Das Schwarzsein ist eine sehr komplizierte ontologische Formation, und die Schwarzen sind ein Produkt dieser Formation. Aber Schwarze und das Schwarzsein sind nicht ein und dasselbe.“ Damit ist also weder eine streng anti-rassistische Reaktion ins Recht gesetzt noch einer Beliebigkeit der kulturellen Appropriation das Wort geredet. („Jede und jeder ist so schwarz, wie sie/er sich fühlt.“)

Soziale Ermattung

Die vierzig Filme des Programms von Locarno geben Vielfalt und Widersprüchlichkeit wieder. Historisch beginnt der Bogen bei einem Melodram aus den USA, Within Our Gates aus dem Jahr 1920, auf Anhieb erkennbar als Gegenbild zum rassistischen Birth of a Nation von D. W. Griffith. Und da stehen sich in der Tat zwei Gründerlegenden gegenüber: Griffith, mit dem das moderne Erzählkino begonnen haben soll, und Oscar Micheaux, der Begründer des Black Cinema. Von da an teilte sich die Geschichte des amerikanischen Kinos in das superweiße Hollywood und einen bescheidenen Zweig der „race movies“, der Genre- und B-Filme mit einem „all black cast“. Der historisch letzte Film der Retrospektive stammt ebenfalls aus den USA: still/here von 2000. Christopher Harris’ Film reflektiert die soziale Ermattung der Millenniumsjahre; Schwarzsein heißt hier Untensein. In St. Louis’ schwarzer Northside lebt man von miesen Jobs, als „working poor“, ohne Perspektive. Der Rassismus muss gar nicht explizit sein, er drückt sich in der sozialen Realität aus. Ein wunderbarer Film, aber auch einer, der wenig Hoffnung macht.

Zwischen den beiden Filmen, dem von 1919 und dem von 2000, liegen die unterschiedlichsten Formen von cineastischen Auseinandersetzungen mit dem Schwarzsein. Da sind zum Beispiel die Filme von weißen Regisseuren, die den Rassismus behandeln, wie Joseph Mankiewicz’ No Way Out oder Robert Wises Odds Against Tomorrow; es geht um Filme, die Mythologien „afrikanisieren“ wie Orfeu Negro von Marcel Camus oder Pier Paolo Pasolinis Appunti per un’Orestiade africana, es geht um Genrefilme, in denen Hauptrollen schwarz besetzt sind wie Quentin Tarantinos Jackie Brown oder Jim Jarmuschs Ghost Dog, und natürlich dürfen auch Beispiele des Blaxploitation-Kinos der 70er Jahre nicht fehlen, dazu gehören Super Fly von Gordon Parks und Coffy von Jack Hill. Klassische Melodramen wie Jean Gremillons Daïnah la métisse von 1931, epische Dokumentationen wie das brasilianische Film-Gemälde der Sklaverei, Abolição von Zózimo Bulbul (1988), oder der legendäre jamaikanische Reggae-Gangsterfilm The Harder They Come (1972) mit dem Sänger Jimmy Cliff in der Hauptrolle, dessen Regisseur Perry Henzell jahrzehntelang vergeblich versuchte, einen Nachfolgefilm zu finanzieren. Beim ersten hatte noch Roger Corman geholfen, die Tücken der jamaikanischen – weißen – Kulturpolitik zu überlisten … Ach, es gibt so viele Geschichten zu diesen Filmen, von denen fast alle unter außergewöhnlichen Umständen entstanden, außergewöhnliche Schwierigkeiten überwinden mussten und außergewöhnliche Wirkungen erzielten.

Von den „ethnologischen“ Filmen aus Afrika von Jean Rouch ist Petit à petit (1970) zu sehen. Ein kritisch-empathisches Afrika-Bild ist ohne seine Filme kaum denkbar, und doch hat er auch Widerspruch provoziert: „Du schaust uns an wie Insekten“, sagte Ousmane Sembène. Der Ausweg war ein Kino, das nicht nur beobachtet, sondern agitiert. Sembène wurde einer der wichtigsten Vertreter des „Dritten Kinos“. Dieser Begriff kam gegen Ende der sechziger Jahre auf; das „Third Cinema“ lebte vor allem aus dem antikolonialistischen und antikapitalistischen Impuls. Es setzte sich ebenso radikal vom Hollywoodfilm und seinen Klischees ab wie vom Gestus des europäischen Autorenfilms. Es untersuchte die Beziehungen zwischen Lateinamerika, Afrika und Europa und betrachtete Schwarzsein vor allem als Zustand von Unterdrückung und Ausbeutung, und als Potenzial einer kommenden Revolte. Dazu gehört etwa Med Hondo poetisch-politisches Musik-Drama West Indies, ein grandioser Film, der eine eigene Bildmagie mit brechtschen Verfremdungen zu einer cineastischen Lektion über Sklaverei und Kolonialismus macht. West Indies war mit 1,35 Millionen Dollar Produktionskosten der teuerste bis dahin gedrehte afrikanische Film. Sein kommerzieller Misserfolg im Jahr 1979 markiert das vorläufige Ende der Hoffnungen auf das Dritte Kino.

Black Cinema in den siebziger Jahren musste auch anderswo kämpferisches Kino sein. Es erzählte schließlich nicht nur von Unterdrückung, die die Filmemacher und ihr Publikum erlebt hatten, es musste sich auch gegen die Unterdückung des Filmemachens selbst wehren. Melvin Van Peebles’ paradigmatischer Sweet Sweetback’s Bad Ass Song konnte in keinem Studio der USA entstehen; mit (von Bill Cosby) geliehenen 50.000 Dollar drehte Van Peebles den Film in Personalunion als Produzent, Regisseur, Cutter, Darsteller und Stuntman. Es ist die Geschichte einer sexuellen und dann politischen Erweckung, die in einer Geste der Revolte münden. Die Mischung aus sexueller und politischer Provokation führte beim Start prompt zu einem X-Rating, was mit dem Aufkleber „Rated X by an all-white jury“ beantwortet wurde. Sweet Sweetback war der erste unabhängig produzierte schwarze Film, der eine größere und eben nicht nur schwarze Öffentlichkeit erreichte. Der Film wurde nicht nur gesehen, sondern auch diskutiert.

Inspiriert von der Musik

Das kann man von einem Film wie Babylon von Franco Rosso am Ende dieses „kämpferischen Jahrzehnts“ nicht mehr mit Gewissheit sagen. Mit dem Elan des britischen Realismus und damals aktueller Musik wie dem Reggae erzählt er die Geschichte eines Underdogs mit großen musikalischen Träumen, der von seiner rassistischen Umgebung in eine aussichtslose Situation getrieben wird. Fünf Jahre dauerte es, bis der Film, von der BBC kategorisch abgelehnt, endlich fertiggestellt werden konnte. Es ist das genaueste Bild der sozialen Wurzeln des „british reggae“.

Immer wieder setzt die Verbindung von Black Cinema und Musik neue Energien frei. Der Erfolg von Gangsta-Rap, Hip-Hop und die mediale Allgegenwärtigkeit der Gang-Kriege in den Metropolen ermöglichten in den 90er Jahren ein neues Genre, den Ghettofilm, der oft die Hauptrollen mit populären Musikern besetzte und im Gegensatz zum früheren Blaxploitation-Film vor dem Schmutz und der Hoffnungslosigkeit in den Ghettos nicht zurückschreckte. Boyz n the Hood von John Singleton war 1991 ein Muster und zugleich ein Meisterstück des Genres; so direkt, ohne ästhetische und narrative Maskierungen hatte noch kein Film wie diese zweifellos autobiografisch unterfütterte Erzählung von der Jugend in den schwarzen Vierteln berichtet.

Während sich die urbanen, „maskulinen“ Gangster- und Cop-Filme mit Wucht der Gegenwart annähern, gehen zwei Filme von afroamerikanischen Filmemacherinnen an die tieferen Wurzeln: Kasi Lemmons entfaltet in Eve’s Bayou (1997) eine Familiengeschichte: Eve wächst in den Sechzigern in einer respektierten Familie in der schwarzen Community von Louisiana auf, glücklich bis zu dem Tag, als sie ihren Vater bei einem Seitensprung beobachtet. Voodoo, Inzest und Mord umkreisen sich in einer ganz anderen Geschichte des Schwarzseins. Drylongso (1998) von Cauleen Smith stellt auf diversen Ebenen von Liebes- und Kriminalgeschichte die Frage nach „schwarzer Identität“, nicht zuletzt nach dem weiblichen Anteil daran.

Die Retrospektive in Locarno versucht also nicht so sehr einen linearen Emanzipationsprozess zu imaginieren, der zugleich ein Anpassungsprozess ist (denn so sehr es etwa Fortschritt sein mag, dass afroamerikanische Schauspieler mehr oder weniger selbstverständlich zum Star-System des Blockbuster-Kinos gehören, so sehr sind auch die Chancen für ein radikales, kritisches und eigensinniges Kino gesunken); es geht vielmehr um Bruchstellen und Transformationen. Das Wunderbare an dieser Konzeption ist, dass man die Filme nicht als Beleg für ein Modell oder eine These ansehen muss, sondern Entdeckungen machen und Perspektivwechsel vornehmen kann. Das Kino, oder besser: die Welt, in „black light“ zu sehen, ist eine Chance, die man nicht verpassen sollte.

Georg Seeßlen | der Freitag | Ausgabe 33/2019

Bild ganz oben: Still aus „Odds Against Tomorrow“ (1959 | Regie: Robert Wise) mit Harry Belafonte in einer seiner besten Rollen. (via youtube)