DER NEUE DEUTSCHE KINDHEITSROMAN BEFASST SICH UNTER ANDEREM MIT „VERFLOSSENEN ZEHEN“ UND „EINSTIGEN FERSEN“. 
TEIL 2 EINER REISE INS REICH DER BUDDELKÄSTEN

Die Erfindung der Langsamkeit

Auch im nächsten Buch wird fleißig nacktgebadet, wenn auch nicht in Teichen, in denen windschiefe Bilder mit polizeilich verbotenen Satzbauten um die Wette fahren. Geschrieben hat es ein ausgewiesener Spezialist, der im Nebenberuf eine Talentschmiede betreibt: Hanns-Josef Ortheil unterrichtet Kreatives Schreiben in Hildesheim, einem hübschen Städtchen irgendwo zwischen dem Herzogtum Braunschweig und dem Königreich Hannover, bekannt durch die hindurchfahrende Eisenbahn und nicht weit von Osnabrück gelegen, wo Heinz Rudolf Kunze das Liedermachen lehrt.

„Liebe Aeltern, hab’ Euch immer / Zierlich Referenz erzeigt: / Vatern sieben tiefe Knixe / Jeden Morgen, Mittag, Abend, / Muttern fünfe, wie sichs ziemt …“ So singt die schöne Formosa in Fouqués Die vier Brüder von der Weserburg, und so könnte es als Motto über den 590 Seiten stehen, die Ortheil mit den Abenteuern des stummen Johannes füllt. In Die Erfindung des Lebens, einem tief empfundenen, halbautobiographischen Entwicklungsroman geht alles so würdig und recht, geziemend und heilsam zu, daß mir schon nach wenigen Minuten die Augen zufallen wollten, lange, bevor der Apostel Paulus – übrigens mit einem Aperçu aus dem 1. Brief an die Korinther – das Schlusswort spricht.

Statt auf die Vergangenheit zu pfeifen und seinen Helden im 16. Kapitel einfach absaufen zu lassen, hat Ortheil noch 400 Seiten drangehängt, in denen er den stummen Knaben durch ein Tal des Jammers allmählich auf musik- und sprachkünstlerische Höhen führt.

Da war ich längst nicht mehr unter den Lesenden, denn ich bin mitten im Nacktbadekapitel ausgestiegen. Dabei gebe ich zu bedenken, dass ich – trotz nackter Fakten – nicht nur ständig mit dem Einschlafen zu kämpfen, sondern auch die Neckereien satt hatte, die ihren Höhepunkt auf einer kleinen Hamburg-Reise erreichten, auf der ich das Buch offen und ungenant mit mir herumtrug.

Die wohlkalkulierte Dickleibigkeit, die abgefeimte Verpackung: alles deute darauf hin, dass beim Aufklappen des Buchdeckels eine Likörflasche zum Vorschein komme – dieser Verdacht wurde nicht nur einmal geäußert, ich hörte ihn immer wieder. Doch ich kann’s beschwören: Statt auf hochprozentiges Wasser stieß ich zwischen den Deckeln auf annähernd eine Million – in Ziffern: 1.000.000 – Buchstaben. Buchstaben, die sich endlos und trocken aneinanderreihten, wie die Perlen eines verflixten Rosenkranzes.

Auch wenn die „wunderschön prächtige, hohe und mächtige, liebreich holdselige himmlische Frau“ eine tragende Rolle spielt (womit Ortheil eins der schönsten Marien- und Liebeslieder überhaupt ins Spiel bringt: In meiner persönlichen Hitparade rangiert es zwischen „Herzen haben keine Fenster“ und „Honolulu Baby“): Das transusige Erzähltempo will selbst in den Andachtsszenen keine rechte Stimmung aufkommen lassen, jedenfalls in den mir bekannten 16 Kapiteln. Und auch die Träume des Helden, die ihn bis zum Papa Pontifex nach Rom katapultieren, muten allzu wundermild und rentnerhaft an.

By the way: Wer in Sachen Gottesmutter die volle Dröhnung braucht, der lese, sofern er’s nicht längst getan hat, Franz Werfels Lied von Bernadette – eine prickelnd schnulzige und doch fesselnde Hagiographie, die in fünf Reihen à zehn Kapiteln nach dem Ideal des Rosenkranzes gebaut ist. Am besten dreimal hintereinander, nur so kann sich die Wirkung des fulminanten Romanwerks entfalten, wie ja auch ein Rosenkranzgebet, um wirken zu können, drei Kränzchen à 50 Ave Maria benötigt.

So ist das Buch – wir sind wieder bei der Erfindung des Lebens –, das man trotz des futuristisch angehauchten Titels nicht mit Jules Vernes Erfindung des Verderbens verwechseln darf, wohl am ehesten älteren, alleinstehenden Damen zu empfehlen, die, wenn das Stopfei ruht und die Stunde der Pralinenschachtel schlägt, gern noch ein Stündchen ins Land der Kindheit reisen. Am liebsten, wenn der Weg dorthin mit viel Weh und Ach gepflastert ist.

Text: Wenzel Storch

Erschienen in „konkret“ 5/2011

Fortsetzung folgt:

Fäkalischer Barock: Heinz Strunk
Dschingerle reloaded: Wolfgang Herrndorfs Tschick