Die Bergpredigt in der Satteltasche

Jerry Spring ist ein milde gestimmter Cowboy, der mit seinem feisten und tapsigen Freund Pancho, einem Sancho-Pansa-Verschnitt, durch den Wilden Westen reitet und Streitigkeiten schlichtet. Als Leser der ersten Stunde – die Comicreihe „Jerry Spring – Der Mann aus Texas“ erschien ab 1971 im Bastei-Verlag – lockten mich neben der Wildwestatmosphäre die Bonbonfarben und, bei genauerem Hinsehen, die eigentümlichen Wolken, die über den Wüsten und Sierras aufzogen.

Die zehn Gebote in der Satteltasche: Jerry Spring, der brave Cowboy

Auch wenn es nirgends ausgesprochen wird: Jerry Spring ist – wie sein Erfinder Jijé – ein braver Katholik, für den das Wort von der anderen Backe, die es hinzuhalten gelte, Gesetz ist. Erst wenn die Backen dick geschwollen sind, darf der Colt gezogen werden, der anstatt mit blauen Bohnen mit Zündplättchen geladen ist. Blutüberströmte Leichen wird man bei Jijé (d. i. Joseph Gillain) vergeblich suchen. Und auch nicht vermissen, da der Mann, bei dem André Franquin und Eddy Paape, Morris, Will und Giraud in die Schule gingen, vor allem ein großer Stimmungsmaler war.

Eröffnungspanel aus „Im Namen des Gesetzes!“: „Jerry Spring – Der Mann aus Texas“ Nr. 6, Bastei-Verlag

Was ich als naiver Leser nicht wissen konnte: Die tollen Himmel gehörten gar nicht dazu. Die hatten Mitarbeiter des Bastei-Verlages nachträglich hineingezeichnet, genau wie die unförmigen Sprechblasen, die man in Bergisch Gladbach lieber selber malte, um sie mit krudem, selbstgemachtem Deutsch zu füllen. Das Material war schonungslos ummontiert und so lange mit süßlichen Farben übergossen worden, bis alle Nuancen zugedeckt waren – wodurch Jerry Spring in die Nähe von Silberpfeil und Bonanza rückte, Comictrash, der das Firmenprofil des Roman- und Rätselheftriesen prägte.

Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft: „Golden Creek“, März 1954

(Jerry Spring Gesamtausgabe 1. Ehapa Comic Collection)

Die Pop-Art-Wolken erinnerten an Zeitreisecomics wie Perry und Jodelle und machten einen nicht unwesentlichen Reiz der Heftchen aus. Ausgerechnet Jijé mußte sich das bieten lassen, der nicht nur ein skrupulöser Realist, sondern auch ein begnadeter Landschaftsmaler war. (Außer für seine Landschaften ist Gillain für seine Signoritas und Pferde berühmt. Seine männlichen Helden sehen dagegen oft aus, als hätten sie einen Besenstiel verschluckt.)

Seit 2010 erscheinen die Abenteuer von Jerry Spring in einer fünfbändigen Gesamtausgabe, deren letzter und dickster Band die Episoden 21 bis 25 umfaßt. Die Ehapa Comic Collection bringt die Serie, die zwischen 1954 und 1977 in einer vom Autor kolorierten Fassung im belgischen Comicmagazin „Spirou“ lief, erstmals so, wie sie in Gillains Gehirn geplant war: ohne Schnickschnack – in gutem, altem Schwarzweiß. Ergänzt um einen Sekundärteil, der seltene Fotos und frühe Magazin- und Albencover bietet. Dabei enthält der eben erschienene fünfte Band – neben Band I – die Highlights der Serie, darunter „Jerry contre K.K.K.“, eine erzähltechnisch rasante und graphisch herausragende Episode, die mit Wallace Woods klassischer Ku-Klux-Klan-Story „Under Cover“ („Shock SuspenStories“ No. 6, Dez./Jan. 1953) spielend mithalten kann.

„Jerry contre K.K.K.“ lief von Januar bis Juni 1966 in „Spirou“ (Jerry Spring Gesamtausgabe 5. Ehapa Comic Collection)

Was mir Gelegenheit bietet, auf „Abenteuer im Hansano-Land“ hinzuweisen, einen Puppenfilm, bei dem ich 1989 Regie führen durfte. Der kleine, kaum zweiminütige Film schildert einen typischen Sonntag im Hansano-Land.

Hier wohnt man seit alters her in Milchtüten: Die Kühe haben Strickleitern an den aufgerissenen Laschen befestigt und klettern so in ihre Häuser. In der wirren Handlung spielen ein Caro-Kloster und der Geheimbund des Kuh-Klux-Klan eine tragende Rolle. Denn immer wieder sonntags fallen maskierte Mastkühe ins Hansano-Land ein und verbreiten Angst und Schrecken.

Das Ende vom Lied: Die Milchkühe verfallen dem Alkohol und ziehen aus den Milchtüten in ausgetrunkene Bierflaschen. Ein kleiner Film zum Nachdenken – wenn auch nicht ganz so straff erzählt wie die Meisterstücke von Jijé und Wallace Wood.

Wenzel Storch

Jijé: Jerry Spring Gesamtausgabe I-V. Ehapa Comic Collection, Köln 2010-2012, 240 (Bd. I), 240 (Bd. II), 232 (Bd. III), 232 (Bd. IV), 298 (Bd. V) Seiten, je 29,95 Euro

„Abenteuer im Hansano-Land“ ist auf der Doppel-DVD „Sommer der Liebe“ (Cinema Surreal) zu besichtigen, als Bestandteil der Doku „Sitzfußball und Gruppensex“.

 

Bald: Comic-Gesamtausgaben boomen. Wann kommt die historisch-kritische Petzi-Ausgabe?