Mut als Motor

Großkritiker hierzulande gehen am liebsten in die Großtheater. Dabei sind es oft die „kleinen“ Bühnen fern der Metropolen, auf denen Großes passiert. Aktuelles Beispiel: das Potsdamer Hans Otto Theater.

„Theater mit Haltung!“ – Mit diesem Slogan ist die neue Intendantin Bettina Jahnke angetreten. Ein vollmundiger Spruch. Die ersten Premieren unter ihrer Leitung zeigen: In Potsdam wird derzeit alles getan, dem inhaltlich und formal zu entsprechen. Ob die feinsinnige Roman-Adaption „In Zeiten abnehmenden Lichts“ (von Jahnke selbst inszeniert), das kraftvolle Flüchtlingsdrama „Occident Express“ oder der diskursive Abend „Europa verteidigen“ – immer geht es um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Fragen zu unserem Hier und Heute, und das stets mit der erfrischenden, deutlichen Absagen an stumpfsinnige Feindbild-Malereien. Es geht um Erkundungen unserer Wirklichkeit. Es geht formal um Originalität. Das nie um der Originalität willen, sondern um die Inhalte zu stützen. Und, wie wunderbar: Intelligenz ist angesagt. Das Publikum wird ernst genommen, darf denken, sich reiben, ist aufgefordert, sich zu positionieren. Kein Ranschmeißtheater, keine Pointen-Schinderei. Hut ab! Mut als Motor. Das ist in der deutschen Theaterlandschaft überaus bemerkenswert.

Und manchmal kann das auch herrlich irritierend sein. Aktuell dank einer Inszenierung, die Bettina Jahnke von ihrer vorigen Wirkungsstätte, dem Rheinischen Landestheater Neuss, mitgebracht hat. Shakespeares „Othello“, inszeniert von Mario Holetzeck, der sich in den Jahren 2008 bis 2017 so einige Meriten als Schauspieldirektor am Staatstheater Cottbus erarbeitet hat. Die Neusser Premiere war im März dieses Jahres. Nun also Potsdam.

Der Abend ist erst mal schauspielerisch beeindruckend. Dabei wird es dem von Michael Meichßner (Jago) und Andreas Spaniol (Othello) angeführten Ensemble nicht leicht gemacht, denn sie spielen eine mit heutiger Sprache operierende Fassung des Autors Marius von Mayenburg, die gelegentlich doch zu überdeutlich aufs Hier und Heute zielt. Aber: Die Kunst der Akteure gibt den Texten eine fiebrige Sinnlichkeit. Was einen als Zuschauer mitzieht. Bettina Jahnke, soviel lässt sich schon jetzt sagen, und ihr Leitungsteam haben ein gutes Gespür für exzellente Schauspielerinnen und Schauspieler, denen sie reichlich Futter anbieten. Mit jeder Novität freut man sich auf die nächste, ahnend, dass es wieder schauspielerische Überraschungen geben wird.

Und, ja, man begreift hier „Othello“, den Thriller um den Intriganten Jago, der den Fremdling Othello in Wahn und Tod treibt, nur weil der eben fremd ist und anders als alle anderen, als Beitrag zu gegenwärtigen Diskussion um Migration, Fremdenhass, gesellschaftliche und kulturelle Werte. Das ist stilistisch spannend, weil nie anbiedernd an Publikumserwartungen und – bei aller deutlichen Gesellschaftserkundung – voller wuchtiger Gefühle bis hin zum, jawoll, Kitsch. Der Gefühlsüberschwang im Finale wird mit offenbar bewusster sentimentaler Überzeichnung derart wirkungsvoll ausgestellt, dass ein nicht geringer Teil des Premierenpublikums tatsächlich aus dem Häuschen geriet und sich zu Standing Ovations hinreißen ließ. Manche und Mancher rieb sich aber auch die Augen. Die hier offerierte Lawine von Emotionen überrollt einen allerdings nicht, macht einen nicht sprachlos, sondern, im Gegenteil, regt zur Diskussion an. Selten wohl kommen, wie hier geschehen, nach einer Theaterpremiere derart viele – sich bis dahin unbekannte – Leute miteinander ins Gespräch, diskutieren über das Gesehene und stellen erfreut fest, wie erfrischend provozierend (im produktivem Sinn) Schauspielkunst sein kann. Chapeau!

Peter Claus

Bild ganz oben: Michael Meichßner, Jan Hallmann | Foto: M. Jauk

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