In der von Blake Edwards inszenierten Kino-Adaption von Truman Capotes Erzählung „Frühstück bei Tiffany“ ist der Lesesaal der NYPL, der New York Public Library, 1961 Zufluchtsort für die Hauptfigur Holly Golightly (Audrey Hepburn) und romantischer Hort der Liebe. Im vorigen Jahr beim Filmfestival Venedig kam endlich eine Dokumentation zur Uraufführung, die sich dem magischen Ort mit Sinn für Realismus nährt – die Dokumentation des US-amerikanischen Regie-Veteranen Frederick Wiseman. Und: Nicht allein der Lesesaal wird beleuchtet – erkundet wird das Universum NYPL.

Wiseman gehört nach wie vor zu den weltweit wichtigsten Dokumentarfilm-Regisseuren. Der Goldene Löwen für sein Lebenswerk wurde ihm schon vor vier Jahren auf dem Filmfestival Venedig verliehen und den Ehren-Oscar 2016 hat er als Ansporn fürs Weiterarbeiten genommen. In den USA kam inwzischen bereits seine 47. Dokumentation, „Monrovia, Indiana“, in die Kinos. „Ex libris – The New York Public Library“ ist unmittelbar davor entstanden. In rund dreieinhalb Stunden, in denen nicht eine Sekunde Leerlauf oder Langeweile aufkommt, zeichnet der Autor und Regisseur ein Porträt der inzwischen mehr als einhundert Jahre alten New Yorker Institution. Damit gelingt ihm ein faszinierender Blick auf die Gegenwart der westlichen Industrienationen zwischen Tradition und Moderne, politischer Rückwärtsgewandtheit und liberalen Zukunftsvisionen.

Interviews und Kommentare braucht es nicht. Wiseman wandelt mit Entdeckerlust durch die Bibliothek und ihre vielen Zweigstellen, blickt neugierig hinter die Kulissen ins Räderwerk der Organisation, beobachtet Besucher, fängt kleine, dabei aussagestarke Episoden ein, besucht öffentliche Diskussionsforen mit Wissenschaftlern und Künstlern. Er lauscht bei Dienstbesprechungen, in denen es etwa darum geht – trotz weitgehender privater Finanzierung – als Unternehmen die Selbständigkeit zu behalten und möglichst auszubauen.

Eindrucksvoll wird das Ethos der New York Public Library deutlich: Es geht nicht darum, Wissen zu horten. Ziel ist, Wissen weiterzugeben. Die Bibliothek selbst und der Film feiern eindrucksvoll etwas Altmodisches, das es dringend gilt, zu erhalten und wieder mehr und mehr ins öffentliche Bewusstsein zu tragen: Achtsamkeit im Umgang miteinander, Respekt füreinander, Menschenliebe im allumfassenden Sinn.

Als Zuschauer erlebt man, wie das Team der Bibliothek so komplizierte wie spannende Probleme anpackt. Einmal beispielsweise geht es darum, das wertvolle Exemplar einer Gutenberg-Bibel zugänglich zu machen. Was heißt: das nicht zu bezahlende Buch soll sinnlich erfahrbar gemacht werden. Nur wie? Ein anderes Mal wird die rasante Zunahme der Bestellung von elektronischen Büchern (E-Books) thematisiert. Da steht die Frage im Raum, wie die vorhandenen Möglichkeiten noch effektiver genutzt werden können, um die Bedürfnisse der Nutzer zu befriedigen. Und immer wieder fokussiert Wiseman auf das Thema Bildungsvermittlung. Dabei offenbart sich, mit welchem enormen Engagement alle in der Bibliothek wirken. Hier hat niemand einen „Job“. Hier wird Arbeit als Erfüllung empfunden.

Frederick Wisemans Film wirkt formal wie ein elegischer jedoch nie sentimentaler Tanz, ein wahrlich bezwingendes Tableau. Inhaltlich reift der Film zu einem politischen Manifest. Er feiert eine Gesellschaft, die Lust auf Überraschungen hat, auf unbekannte Menschen mit fremden Ansichten, eine Gesellschaft, die auf gegenseitige Achtung baut, auf wirkliche Demokratie. Wirkungsvoll wird Francis Bacons noch heute gültige Wahrheit bestätigt: Wissen ist Macht.

Peter Claus

Ex Libris – The New York Public Library, von Frederick Wiseman (USA 2017)