Außer Atem

Wie schön es ist, glücklich zu sein

Wenn, so hat es Isabelle Matthew erklärt, ihre Eltern das jemals entdecken sollten, dann bringe sie sich um. Und sie meint die Beziehung zu ihrem Bruder Theo, die lustvoll am Rande des Inzest tanzt. Nun waren ihre Eltern da, Isabelle bemerkt es an dem Scheck auf dem Tisch, und sie müssen die drei gesehen haben, die nackten Gliedmaßen schlafend ineinander verschlungen. Isabelle steht auf und legt sich, den geöffneten Gasschlauch in der Hand, wieder zwischen die beiden schlafenden Jungen. Das Mädchen sieht in den vermeintlich letzten Augenblicken ihres Lebens nicht die Quintessenz dessen, sie sieht, was sie immer sieht, einen Film. Da fliegt das richtige Leben in Gestalt eines revolutionären Pflastersteins durch das Fenster und so also rettet der Mai ’68 den drei Cineasten das Leben, weshalb zwei von ihnen sich an der Durchführung der Revolution beteiligen. Und während wir uns noch fragen, was das über das Jahr ’68 erzählen mag, fällt uns auch schon die Antwort ein: es hat Spaß gemacht.
So wie dieser Film des großen Bernardo Bertolucci. Der sich im Übrigen vielleicht weniger der politischen Verwerfungen erinnern will als der poetischen Erfahrungen. Und die gewannen sie im Kino, in der Cinemateque, deren Direktor im Februar ’68 gefeuert wurde. Vielleicht, erklärt einer der Jungen, saßen wir immer ganz vorn, weil wir die Bilder als erste haben wollten.
Wo bist du geboren? fragt Matthew, der Amerikaner in Paris, Isabelle. Ich wurde, entgegnet das Mädchen, 1959 auf den Champs-Elysées geboren. Und dann läuft sie quer über die Straße und ruft New York Herald Tribune. Matthew hat sie natürlich verstanden und wir verstehen sie auch sogleich. Denn da läuft nun, in ungefärbten Bildern, Jean Seberg über die Straße und ruft New York Herald Tribune. Godards „Außer Atem“ (1959), mit dem die Nouvelle vague begann, die endgültige Aufnahme des Kinos in die Bezirke des reinen Geistes. Und weil die Cinemateque nun geschlossen wird, gehen die drei nach Hause. Da ist es auch schön, denn die Eltern der Zwillinge sind verreist. Isabelle, Theo und Matthew veranstalten ein heiteres Filmeraten und wer die gespielte Szene nicht erkennt, wird bestraft. Theo zum Beispiel, sagt seine Schwester, muss auf das Plakat mit Marlene onanieren, Isabelle zum Beispiel, sagt ihr Bruder, muss mit Matthew schlafen. So tun alle, was sie gerne tun. Und wenn Matthew Isabelle entjungfert, und sie ihn, dann steht Theo am Herd, betrachtet seine stöhnende Schwester und brät Eier. Und wir beobachten alle und wundern uns, warum das nicht obszön ist. Manchmal diskutieren sie über Mao und die Frage, wer komischer sei, Chaplin oder Keaton. Und so könnte das, die drei sind zwanzig Jahre alt, tausend Jahre gehen, wenn draußen nicht das Leben dräute. Und damit sie nicht immer bleiben in ihrem Turm der Liebe und der Filme und keine trotteligen Bürgerärsche werden, wirft ihnen die Revolution einen Stein ins Fenster.
Bernardo Bertolucci, inzwischen 64 Jahre alt und in seinen Filmen (1900, Der letzte Tango in Paris) nicht eben ein Exponent der leichthändigen Geschichten, erzählt hier mit einer unglaublichen Leichtigkeit, ja mit einer Anmut, die verzückt. Erzählt, wie seine Helden, also er, also seine Generation, außer Atem gerieten vor Glück. Einem Glück, das ein sinnliches, komplexes Lebensgefühl war, ein Überschuss an Energie, die nach Marcuses Formel von der repressiven Toleranz zu absorbieren die Gesellschaft noch nicht gelernt hatte.
Es ist wohl nicht sehr elegant wie Bertolucci hier Filme zitiert, montiert, gleichsam direkt, ohne Umweg, doch es ist voller Liebe. Und es ist voller jugendlicher Anmut, der jegliche Larmoyanz des älteren Herren fehlt, der das Trio fröhlich tanzen lässt vor seiner Kamera und vor den Bildern seiner Erinnerung. Doch irgendwann gerät jeder Traum in den Bann des wirklichen Lebens und so gehen die drei, ehe sie sich beinahe zu Tode geträumt haben, auf die Straße. Am Ende dieser Straße werden sie wohl Oberstudienräte sein, doch haben sie denen, die es ohne Umweg werden, einen Traum voraus.
Der Zeitgeist, der die Große Gleichgültigkeit ausgerufen hat, pflegt das Phänomen ’68 mit, bestenfalls, mildem Spott zu bedenken. Womöglich, weil junge Intellektuelle heute, neben dem Finanzamt, kein rechtes Feindbild haben und gewiss, weil alles, was einer gesellschaftlichen Intention folgt, als eine Albernheit gilt. Am Ende, über dem Bild der brennenden Straße, singt Edith Piaf das Non, je ne regrette rien. Warum auch.

Autor: Henryk Goldberg

Text: veröffentlicht in filmspiegel